Von obsessiven Mädchen, Dandys in Lacoste, einer trinkenden Diva und Jungs am Abgrund

Ein Rückblick auf das 27. Filmfest München

[ 21.07.2009 ] Die Macher des renommierten Filmfests werben seit längerem etwas kleinkindhaft, daß es doch unvergleichbar sei, unter weißblauem Himmel an der Isar mit einem erfrischenden Eis von Spielstätte zu Spielstätte zu pilgern. Die bajuwarischen Farben am Firmament waren zumindest in den ersten Festivaltagen Pustekuchen, die Isar tobte sich schlackebraun durch ihr imposantes Bett, und irgendwann ist halt jedes Eis dieser Welt geschleckt – dann müssen es also die Filme richten. Was das Festival in seiner 27. Ausgabe prompt auch einlöste. Aber: Noch immer blöd gefunden werden darf, daß wichtige Slots an eine Reihe vergeben werden, die sich dem deutschen Fernsehfilm verpflichtet fühlt. Pardon, aber kein Verständnis dafür, daß sich Filme aus Polizeiruf & Co neben dem Kino der Welt zu präsentieren pflegen, nur um wenige Wochen darauf im durchfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu laufen. Und auf das bißchen Eitelkeit, welche aufmerksamkeitsrege TV-Stars über die roten Filmfestteppiche stolzieren läßt, kann man getrost verzichten.

Nun zu den (Kino-)Filmen, derer es viele bemerkenswerte gab in diesem Jahrgang. Stark waren die Visiones Latinas, ohnehin die Sektion, die schon in den letzten Jahren von immenser Qualität zeugte. In Lateinamerika ist halt viel in Bewegung – politisch wie kulturell. Überzeugend war dabei vor allem GASOLINA aus dem noch exotischen Filmland Guatemala. Julio Hernández Cordón erzählt aus dem Alltag sich langweilender Jugendlicher, die sich die Zeit vertreiben, indem sie aus fremden Autos das Benzin abzapfen, ziellos durch die Gegend kurven – geradezu hinein in eine furchtbare Katastrophe. Ein ruhig erzählter Film, der einen ehrlichen, ungeschönten Blick in die Perspektivlosigkeit der Jugend eines noch recht instabilen Landes wirft.

Aus Chile kam der Film MAMI TE AMO, der zum einen spröde, dadurch aber vielleicht gerade „aushaltbar“ von einer gänzlich anderen ­Katastrophe erzählt. Die Mutter der kleinen Raquel erblindet zunehmend, das Kind versucht nun alles, um seiner Mutter zu helfen, ihr nahe zu sein. Raquel findet einen Weg, das Schicksal der Mama zu teilen: Sie tröpfelt sich Chlor in die Augen ... In sehr ruhigen, teils kunstvoll unscharfen Bilder erzählt Elisa Eliash von Hilflosigkeit, von einer Ohnmacht, von bedingungsloser Liebe eines Kindes zu seiner Mutter – bis hin zur Selbstaufgabe. Einzig die Erfüllung eines langen Wunsches bringt ein wenig Hoffnung in die Geschichte: ein gemeinsamer Ausflug nach Fantasialand.

Gar nicht mehr auf der Agenda des interessierten Filmfestbesuchers steht seit knapp fünf Jahren die Sektion des unabhängigen amerikanischen Kinos, da sich die einst so agile Independentszene via Einverleibung durch die US-Majors quasi in Selbstauflösung begab. Hohe Budgets haben sich eben nicht mit der vormals so geschätzten Kreativität vertragen, Innovation entsteht eben oft auch aus suboptimalen Bedingungen. Der Nachwuchs ist zu schnell satt geworden. Immerhin eine sehr beeindruckende, dabei so irre herzquälende Dokumentation war zu entdecken: BOY INTERRUPTED ist die Geschichte der Familie um den Teenager Evan Perry, der seit früher Kindheit an der bipolaren Krankheit leidet. Im Alter von 15 Jahren scheint sein Zustand stabil, da springt der Junge aus dem Fenster. Evan hinterläßt einen sehr klaren, todtraurigen Abschiedsbrief. Dana Perry, die Mutter des Jungen, fand nach drei Jahren die Kraft, diesen Film zu drehen, sie erzählt offen, anrührend und mit bewundernswerter Stärke davon, welchen Verlust es bedeutet, dieses junge Leben aus den Händen gleiten zu sehen. Evans Oma, deren eigener Sohn ebenfalls an der Krankheit litt und sich mit Anfang 20 das Leben nahm, findet die richtige, aufwühlende Beschreibung, die das Gefühl all jener trifft, die einen geliebten Menschen verloren haben: „Die Worte, um zu beschreiben, was da mit einem passiert, gibt es einfach nicht. Das Leben geht sicherlich weiter, aber anders als man es sich je gedacht hat. Es ist für immer etwas zerstört!“

Von einem Mann, der auch an bipolarer Störung leidet, erzählt TWO LOVERS, ein Film von James Gray, der völlig zu unrecht im deutschen Kino ziemlich ignoriert wird. Dies ist sein bisher zärtlichster Film. Leonard, so um die 30, wohnt noch bei den Eltern, bis sein Leben plötzlich eine komplette Wendung nimmt: Er begegnet gleich zwei Frauen, wobei nur eine ihm wirklich gut tun kann. Der Erkenntnisprozeß ist für Leonard ein sehr schmerzlicher, einer, der ihn fast in den Abgrund stürzen läßt, und man ist als Zuschauer nur froh, daß es zum Schluß quasi eine Notbremsung gibt. Es dürfte die vorerst letzte Kinorolle für Joaquin Phoenix sein, der sich bekanntermaßen aus dem Filmgeschäft verabschiedet hat. Ein Verzicht, der zu bedauern ist.

Interessantes war bei den Franzosen zu entdecken: JE TE MANGERAIS beispielsweise erzählt von einer Obsession. Um Pianistin zu werden, kommt Marie nach Lyon und wohnt fortan bei einer Freundin aus der Kindheit. Die ersten Annäherungen Emmas empfindet Marie noch als schön, schmeichelhaft, doch dann wird Emma zudringlicher, härter und greift mit teils sadistischen Methoden in Maries Leben ein. Spannend, sogartig und mit einer wunderbaren Isild Le Besco als einsame und liebesgierige Emma – ein faszinierendes Debüt von Sophie Laloy.

Mit großer Spannung wurde L’ENFER D’ HENRI-GEORGES CLOUZOT erwartet, ein Film über einen Film, den es nie gegeben hat. Clouzot drehte nach einer Pause von vier Jahren den hochbudgetierten Film L’ENFER mit der jungen Romy Schneider und Serge Reggiani in den Hauptrollen. Clouzot verzettelte sich, sprengte den Zeitrahmen, drehte fertige Szenen wieder und wieder, überwarf sich mit Reggiani, ließ daraufhin Trintignant antreten, der abreiste, ohne nur einen Meter Film gedreht zu haben. Dann erlitt Clouzot eine Herzattacke ... Der Filmhistoriker Serge Bromberg kontaktierte Inés Clouzot, die Witwe des Filmemachers, sie lehnte höflich ab, das bereits gedrehte Material herauszugeben, begleitete den bittenden und bettelnden Filmer zum Fahrstuhl, fuhr mit ihm gemeinsam herunter – und der Lift blieb stecken. Eine Stunde Zeit, um die alte Dame doch noch zu überzeugen ...

Bromberg erzählt mit Witz und einer schönen Portion Dramatik eine Geschichte vom Scheitern, vom Genialischen und von komischen Kostümproben. Sein Werk besticht vor allem durch bezaubernde Bilder einer strahlenden Romy Schneider. Mit ihr wird noch jeder nicht umgesetzte Film zum Verlust. Ob man nun darüber hinaus bedauern muß, daß L’ENFER nie zu Ende gebracht wurde, darf angesichts der doch auch irgendwie manieriert und überstrapaziert wirkenden Effekte, die zur Unterstreichung eines von Eifersucht getriebenen Mannes dienen sollen, bezweifelt werden. Da hatte das Scheitern von Terry Gilliam an THE MAN WHO KILLED DON QUIJOTE, wovon vor ein paar Jahren der fesselnde Dokumentarfilm LOST IN LA MANCHA erzählte, ganz andere Dimensionen.

Gilliam hat sich im übrigen von Schicksalsschlägen jedweder Art nicht zurückwerfen lassen, vielmehr ist ihm mit dem diesjährigen Eröffnungsfilm THE IMAGINARIUM OF DOCTOR PARNASSUS ein echtes Meisterwerk gelungen. Kindsköpfig, von überbordender Phantasie und wunderbar plastischen Bildern, die manchmal wie Plattencover von Pink Floyd daherkommen, erzählt der Querkopf von einer Schaustellertruppe um den langbärtigen und trinkfreudigen Titelhelden. Ihre Jahrmarktattraktion entpuppt sich als ein scheinbar grenzenloses Labyrinth, das seine Besucher zu ihren (Alp-)Träumen bringt. Heath Ledger spielt seine letzte Rolle mit der ihm eigenen Facettenvielfalt. Er wird in – auch dramaturgisch glaubwürdigen – „Ergänzungen“, die nach seinem frühen Tod notwendig wurden, absolut ebenbürtig von Colin Farrell und der Allzweckwaffe Johnny Depp ersetzt, nur Jude Law schießt mit seinen Grimassierungen doch ganz schön übers Ziel. Was dem Film aber gar nichts von seinem Reiz nimmt – ein Kinowunder, eine Phantasmagorie, ein Ausnahmewerk von einem Ausnahmefilmemacher.

Ein Ausnahmeregisseur, wenngleich völlig anderer Couleur, ist auch Andreas Dresen, der – wie wäre es anders zu erwarten – einen ganz fabelhaften Film im Gepäck hatte: WHISKY MIT WODKA erzählt von einem alternden Schauspieler, ein Frauenheld und Fuselfreund, ein divöser Superstar und bisweilen kein Ausbund an Zuverlässigkeit. Der soll nun aus Versicherungsgründen ersetzt werden, da dreht Otto Kullberg richtig am Sender ... Ein melancholischer, ein witziger, ein mit vielen Reminiszenzen gespickter Film (unter anderem eine an SOLO SUNNY, da Drehbuchautor Kohlhaase nach SOMMER VORM BALKON zum zweiten Mal mit Dresen kollaborierte). Ein Film, der ganz fantastische Schauspieler auffährt. Allen voran ein famos angeschossener Henry Hübchen, eine auf den Punkt spielende Corinna Harfouch, und als Regisseur in Nöten brilliert Sylvester Groth.

Verlaß ist momentan auch auf die Geschichten, die sich ums Erwachsenwerden drehen. AWAYDAYS taucht in die jüngere Vergangenheit, spielt Ende der 70er Jahre und erzählt von der Hooligan-Bewegung, die damals noch politisch nahezu unbefleckt ihre Anfänge in England nahm. Der bisher eher brave Paul trifft auf den eloquenten Elvis, ein Schönling, der sich smart kleidet und einer Gang angehört, die sich nach Fußballspielen oder Kneipenexzessen gehörig mit anderen Gruppierungen prügelt. Paul, der jung seine Mutter verloren hat, sucht nach einem neuen Halt, die Sympathiebekundungen Elvis’ schmeicheln ihm, er wird bald zu einem der heftigsten Schläger in der Truppe, während Elvis nach einem Ausstieg sucht und seine wachsende Liebe zu Paul und dessen zunehmende Distanz mit Drogen zu ertränken sucht. Eine authentische Geschichte, die von der tiefsitzenden Sehnsucht nach (Be)Achtung, von dem innigen Wunsch, „out of here, out of this ...“ zu kommen, erzählt, und die – ganz sanft und zurückhaltend – von einer Liebe berichtet, die in solchem Milieu an sich chancenlos scheint. Das Leben der Jungs scheint ein einziger Widerspruch: Sie sind gebildet, schick in Lacoste, Fred Perry und modischen Sneakern gekleidet, sie tanzen zu dunkel-romantischer Musik wie Joy Division, sehen aus wie Patrick Wolf und schlagen dann brutal mit ­Teppichschneidern in der Hand und einer diffusen Wut im Bauch einfach zu ...

Von Wut im Bauch, vom Traum, einfach auszubrechen, alles hinter sich zu lassen, erzählt auch FISH TANK, eine ganz und gar verblüffende Coming-Of-Age-Geschichte, angesiedelt im Süden Englands. Hier steht die 15jährige Mia im Zentrum, die sich mit den anderen „Tussis“ im Kiez anlegt, die sowieso in Mias Augen noch für jeden Penner die Hüften kreisen lassen. Mia fliegt von der Schule, liegt mit ihrer Mutter im Dauerclinch und fängt schließlich auch noch mit deren Liebhaber was an. Streß ist das Schlüsselwort im Leben der Kindfrau, die mit ihrer Liebe zu schwarzer Musik und modernem Tanz einem schnell ans Herz wächst. Andrea Arnold spielt mit den Möglichkeiten, auch mit den finstersten, um von einem Leben auf der Kippe zu berichten. Gott sei Dank mutet sie dem Zuschauer und ihrer Heldin nicht zu viel zu, so daß alle ohnehin schwierigen Ereignisse nachvollziehbar bleiben, und wenigstens der Hauch einer Chance über dieser treffenden Milieustudie schwebt.

Noch ein wenig jünger, aber auch schon von blankem Streß und häuslicher Gewalt stigmatisiert, sind die Helden in KISSES. So um die 12, 13 dürften Kylie und Dylan sein, als sie von Zuhause abhauen. Auf der Flucht vor Gewalt und Trostlosigkeit merken sie, daß das Pflaster Dublins auch kein ganz gefahrenloses und die Welt ohnehin nicht fair ist. Zum Glück empfinden die beiden diese zarte Liebe füreinander. Regisseur Lance Daly fühlt sich gut ein in die noch fast kindlichen Seelen, er weiß, daß sie manchmal nur mit Rollen unter den Turnschuhen für einen Moment aus der Tristesse rasen können, er hat ein gutes Gespür für Nichtgesagtes, für Blicke, kleine Gesten, erste, auch sexuelle Berührungen. Letztendlich ist sein Film ein bitteres Zeugnis dessen, wie früh heutzutage Kinder ihrer Kindheit, ihrer Unschuld und allgemein ihres Rechts aufs Träumen beraubt werden.

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.