The Road

Von überforderten Müttern, verzweifelten Söhnen und Billy Elliot in Ostberlin

Ein Rückblick auf das 28. Filmfest München

[ 02.08.2010 ] Welch wunderbarer Kontrast. Über den Biergärten ein streng bajuwarisch blau-weiß kolorierter Himmel als Indiz naturverbundener Leichtigkeit – Sommer in der Stadt! Doch in den Kinos der

Isarmetropole tobte für gut eine Woche der Krieg. Krieg in den Häusern, in den Familien, im Verborgenen – denn von extremen, durchaus intimen Schieflagen erzählten viele der auf dem 28. Filmfest München präsentierten Filme.

Ohne Umschweife läßt beispielsweise Todd Solondz, der vielleicht letzte Indie-Aner des einst so prächtigen unabhängigen amerikanischen Kinos, bereits im Titel die Hose runter, wenn er mit LIFE DURING WARTIME in die Hölle einer privaten und gesellschaftlichen Zersetzung schaut. Schon das erste Wort des Films ist „Sorry“ – wodurch klar wird, daß es definitiv zu viel Gepäck im Laufe der Jahre geworden ist, als daß die Schwestern Joy, Trish und Helen sich einfach der Sonne Floridas hingeben könnten. Vorwürfe, Selbstmord und Perversion dominieren deren Kosmos, der schon an Solondz’ HAPPINESS erinnert, vielleicht nicht ganz dessen Klasse erreicht, aber eine durchaus würdige „Fortsetzung“ darstellt. Die Erde hat sich weitergedreht, es gab den 11.9.2001 – Solondz erzählt im Subtext von einer vernarbten Nation. Brillant auch die Besetzung, vor allem Shirley Henderson als Psychowrack Joy (!) und Charlotte Rampling als die Inkarnation einer Verbitterung überzeugen in einem Ensemble, das Figuren auffährt, wo noch jede komplett gestört scheint. Oder wie ist zu deuten, wenn eine frisch aufblühende Mutter so um die 50 ihrem vielleicht 12jährigen Sohn erklärt, wann und wann gerade nicht sie feucht zwischen den Beinen ist ...

Einen tiefen Riß in der Psyche erlitt auch Thomas, als er im Alter von vier Jahren zusammen mit seinem kleineren Bruder von der völlig überforderten Mutter zur Adoption freigegeben wurde. Mit den neuen Eltern gibt es Probleme, sein Bruder tut sich da leichter. Eines Tages beginnt Thomas seine leibliche Mutter ausfindig zu machen – was in einer Katastrophe mündet. JE SUIS HEUREUX QUE MA MÈRE SOIT VIVANTE ist ein aufwühlender Film der Kontraste geworden: da ein zerrissener, nach Liebe suchender Aufwachsender, dort die Rückblenden in ein friedvolles, wenn auch manchmal melancholisches Leben. Die bittere Erkenntnis in diesem Drama um große Schuld und Vergebung ist, daß oft erst Schlimmstes geschehen muß, um Menschen – hier die Mutter – aus ihrer Kälte und Unfähigkeit zu lösen. Den erwachsenen Thomas spielt Vincent Rottiers in einer beeindruckenden Mischung aus Wut, Traurigkeit und schierer Verzweiflung. Er gibt diesem Jungen, der nun mal ohne Mama komplett entwurzelt ist, mit all den Zwischentönen, die schon sein Spiel in MON ANGE (2004) an der Seite von Vanessa Paradis, einem seiner ersten Filme, ausmachten.

Jünger als Thomas ist Abel, aber auch er trifft die Entscheidungen, zumindest solang die Familie mitspielt. Der 9jährige verstummt, Psychologen sind ratlos, alles wird darauf zurückgeführt, daß der Vater die Familie verlassen hat. Die Mutter ist verletzt und überfordert, es fehlt das Kommando – das übernimmt nun der zur Sprache zurückfindende 9jährige Zwerg mit den großen Ohren. Er ist jetzt das Oberhaupt der Familie. Was Mama und Geschwister erst lustig fanden, sollte im Fortlauf der Geschichte ernster genommen werden. Spätestens dann, als sich Abel nachts neben seine Mutter legt ...

Der Schauspieler Diego Luna hat mit ABEL sein Regiedebüt abgelegt, was trotz einiger dramaturgischer Unwuchten durchaus zu überzeugen vermag. Das liegt vor allem am Vertrauen Lunas in seine von einem Laiendarsteller gegebene Hauptfigur. Für Luna, und das überträgt sich auch auf das Publikum, ist Abel in seinen fürsorglichen Ambitionen durchaus ernst zu nehmen, er definiert diesen Persönlichkeitswandel nicht per se als Störung, vielmehr als anrührenden Schrei nach familiärer Stabilität, denn die ist arg ins Wanken geraten.

Die Welt in Schieflage – das ist der Aufhänger weiterer Geschichten, die in den Filmfest-Kinos erzählt wurden. Die Welt in Komplett-auflösung ist das Thema des vielleicht stärksten Films dieses Jahrgangs: THE ROAD erzählt in graublauen Bildern von der Apokalypse. Nach einer nicht näher benannten Katastrophe liegt die Welt in Trümmern, alle Tiere sind tot, die Bäume umgestürzt, jede urbane Struktur und jede Landschaft aufgelöst. Nur sehr wenige Menschen haben überlebt, dazu gehört eine kleine Familie – Mutter, Vater, Kind. Auf den Weg nach irgendetwas Eßbarem machen sich schließlich nur der Vater und sein Sohn, die Mutter hielt der Verzweiflung nicht stand. Ganz harter Stoff, ganz großes Kino, denn der Australier John Hillcoat erzählt vom puristischsten Moment eines vielleicht aussichtslosen Kampfs: von Hunger und Liebe. Vater und Sohn müssen sich vor Kannibalen, der moralischen Verrohung und einer stets drohenden Depression schützen, was kaum machbar ist, wenn wirklich nichts mehr eine Ordnung hat. Ein intensiv erzähltes Kunstwerk ist THE ROAD geworden, was auch durch die zart hoffende Musik besticht, die kein Geringerer als Nick Cave schrieb, der ja auch die musikalische Begleitung von Hillcoats genialem Neowestern THE PROPOSITION verantwortete. Übrigens: Den Amerikanern war THE ROAD scheinbar zu ehrlich, zu hart, zu wenig aufgehübscht, weshalb er in den Staaten komplett durchfiel. Nicht die schlechtesten Voraussetzungen also für einen erfolgreichen Deutschland-Start in diesem Herbst, wenn ein mutigeres Publikum diese Kinogroßtat in Augen- und Gefühlsschein nehmen darf.

Gefühl ist das Stichwort – weil es einem durch den in München vorgestellten Film ILLÉGAL fast das Herz zerriß, eben deswegen, weil das Leben nachweislich nicht gerecht ist. Eben noch herrscht Tanja ihren Sohn Iwan in der Straßenbahn an, gefälligst Französisch zu reden. Doch ausgerechnet an seinem Geburtstag möchte der Junge sorglos, echt und unverstellt sein – mit Folgen. Die Weißrussin wird von belgischen Zivilpolizisten nach ihrem Ausweis befragt, den sie nicht hat – sie kommt in Abschiebehaft, getrennt von ihrem Jungen. Wie verzweifelt sich Tanja vor dem Tag, der ihre Illegalität ans Licht bringen könnte, fürchtete, zeigt auch, daß sie vorsorglich und schmerzlich ihre Identität auszulöschen versuchte, in dem sie sich alle Fingerkuppen verbrannte ...

Olivier Masset-Depasses Film wühlt auf, weil er von einem großer Zwiespalt berichtet: Er erzählt von menschlichem Unrecht und von den (nüchtern betrachtet) notwendigen Grenzen Europas, er berichtet von unstillbarer Mutterliebe und roher Gewalt, ausgeübt durch die Angestellten in dem Abschiebegefängnis. ILLÉGAL ist einer dieser Filme, die im Betrachter Wut und Ohnmacht auslösen, Wut vor allem auf die Paragraphenreiter und auf die Verkrüppelten, die als Beamte von Steuergeldern für ihre extreme Brutalität und andere Unzulänglichkeiten auch noch bezahlt werden – anstatt das Geld für deren Therapie aufzuwenden.

Und noch ein Blick ins heimatliche Filmschaffen, der in diesem Jahr durchaus lohnenswert war: Mit MEIN KAMPF, die recht freie, aber durchaus amüsante Adaption von Taboris berühmtem Theaterstück, war von Wortwitz geschliffenes Schauspielerkino zu sehen, mit einem endlich mal wieder gut aufspielenden Götz George als jüdisches Schlitzohr Schlomo und einem tatsächlich brillanten Tom Schilling als junger Adolf, Nachname Hitler. Diese beiden begegnen sich im Wien des Jahres 1910, als Hitler sich noch als Künstler versuchte und scheiterte.

Im Festivalstreß von Cannes seitens der deutschen Journaille zu Unrecht verkannt, denn tatsächlich ziemlich genial ist Christoph Hochhäuslers FALSCHER BEKENNER-Nachfolgefilm UNTER DIR DIE STADT. Angesiedelt im blaukalten Hochhausbankenmilieu Frankfurts taucht Hochhäusler in eine Geschichte um Käuflichkeit, Ehebruch und entartete Karrieremoral ein. Hochhäusler ist dabei in keinem Moment didaktisch, er schwebt wirkungsvoll durch eine Scheinwelt, die längst keine mehr ist, durch diesen Biotop aus Glas, Stahl, Beton und weißem Leder. Hochhäusler skizziert ein Milieu, dessen Spielführer anämische Figuren mit großen Ego-Plänen und kleiner Moral sind. Es ist die Geschichte zur Zeit, weil es um Deppertes und gleichsam Furchteinflößendes wie Human Resources, um Lächerliches wie „Banker des Jahres“ und um das Potenzgehabe sogenannter Entscheider geht, die sich wie brünstige Hirsche in einem längst gerodeten Gehege aufführen. Hochhäusler erzählt reduziert, interessant montiert und in Bildern, die tatsächlich noch fürs Kino gemacht sind.

Zwar fürs Fernsehen gedreht, aber unbedingt im Kino zu sehen sein sollte eine Langzeitdokumentation, die die Herzen rühren wird: ADRIANS TRAUM. Bereits vor sechs Jahren hat Regisseur Manuel Fenn eine Kurzdoku über die Tanzleidenschaft des damals 11jährigen Jungen Adrian gedreht, er blieb dran und tauchte viel tiefer in die von Hoffnung und Schmerz, von Freude und Tränen durchtränkte Geschichte eines großen Traums ein. Adrian will unbedingt Ballettstar werden, auf den ersten Blick spricht nicht so viel dafür: Aufgewachsen in der Berliner Platte, seine Eltern ganz normale Menschen, der Vater Baggerfahrer, und doch blieb der Junge dabei, ein Billy Elliot in Ostberlin. Mit der uneingeschränkten Unterstützung seiner Eltern wird er es an die staatliche Ballettschule schaffen. Es ist geradezu bezaubernd, wie klar Adrian bereits als Kind seine Begeisterung fürs Ballett ausdrücken kann, herzrührend, mit welchen Worten der Vater das „Anderssein“ seines einzigen Kindes beschreibt, Gänsehaut erzeugend, wenn die Eltern so endlos stolz auf ihren besonderen Jungen bei ersten Erfolgen sind. Und wie sie mit ihm traurig sind bei unausbleiblichen Rückschlägen.

Vor allem aber ist ADRIANS TRAUM ein Porträt eines starken Charakters. Auch der erwachsene Adrian Görne weiß, was er will. Und noch wichtiger – was nicht. Er stellt sich nach großen Einschneidungen der Realität, verliert nie für lange dieses ansteckende Lachen aus dem offenen Gesicht mit den großen braunen Augen. Ihm ist in jedem Moment nachzufühlen, welchen Anspruch er an sich, an das Leben und an die Menschen hat.

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.