HOT BOY NOI LOAN – CAU CHUYEN VE THANG CUOI, CO GAI DIEM VA CON VIT

Von Wohlstandssorgen, Jungs mit Mädchenaugen und einer Seifenoper in Saigon

Ein Rückblick auf die 62. Berlinale

[ 01.03.2012 ] Worin liegt der Unterschied, wenn man in Niedertrebra und Berlin mit dem Zug ankommt? Nun, in Niedertrebra kriegt man wahrscheinlich ein Taxi. Berlin, dieser nach Sexyness, Hippness und was weiß ich für -nesses noch so süchtige Moloch, schafft es nicht, zum Festivalauftakt zahlungswilligen Gästen ein Taxi am Hauptbahnhof zur Verfügung zu stellen. Lange Schlangen an beiden Ausgängen, noch längere Gesichter, als man den Fahrer eines dann doch einsam eintrudelnden Taxis nach den Gründen befragt: „Dit Wetter!“ Der ungläubige Blick nach oben: blauer Himmel, Sonnenschein ... Mit Verlaub, arm und sexy geht in Ordnung, bescheuert – eher nicht! Herzlich willkommen also zur 62. Berlinale, wobei einem gleich zum filmischen Auftakt janz blümerant werden konnte: Wie kann man nur, war man erregt zu rufen, wie kann man nur mit einem derart plump-verschnarchten Kostümschinken wie LEB WOHL, MEINE KÖNIGIN! ein so renommiertes Festival eröffnen? Ein Auftakt soll an sich zu mehr anregen, Vorfreude auf ein paar prächtige Filmtage schüren, dieses musikarme Operettenkino, angestaubt wie die schief sitzenden Perücken der Protagonisten, bewirkte das Gegenteil. Die Geschichte – historischer Hintergrund ist der Sturm auf die Bastille – um Marie Antoinette und deren Sehnsucht nach der schönen Gabrielle de Polignac ist zum einen kreuzbieder inszeniert, im Katalog steht etwas von ironischen Zwischentönen, die blieben trotz größerer Anstrengung ungehört, und zum anderen mit Diane Kruger geradezu ahnungslos besetzt. Ihr fällt kaum ein anderes Gesicht ein als das einer angezickten Adligen, hingegen dem Restpersonal, bestehend aus den wahrlich hübsch anzuschauenden Stars Léa Seydoux und Virginie Ledoyen, in bester Altherrenmanier permanent ins pralle Dekolleté geschielt wird.

Enttäuschend, weil uninteressant, geriet Hans-Christian Schmids Familienfilm WAS BLEIBT. Einzig die großartige Corinna Harfouch bestach, der Film selbst blieb für einen Filmemacher von Schmids Größe ungewöhnlich blaß: Die Kinder trullern mal wieder im Elternhaus ein, irgendwo in der Siegburger Provinz. Der eine Sohn ist Arzt, der andere Schriftsteller. Einer boxt sich durch, der andere bekam die Praxis vom reichen Verleger-Papa bezahlt. Daß da auch ein Konflikt schwelt, wird knapp angerissen, fallen gelassen, schließlich steht Größeres zu bewältigen an: Gitte, so wird die Mutter auch von den Söhnen angesprochen, hat ihre Medikamente abgesetzt, sie will ohne klarkommen. Die Familie ist entsetzt in Kenntnis ihrer psychischen Probleme. Bis Gitte eines Tages verschwindet, nachdem Günther, so wird der Vater gerufen, ein Liebchen erwähnte ... „Mensch, Herr Schmid!“, möchte man traurig rufen, ob dieser Luxusblase. Es ist ja nicht ohne Realität, was er da erzählt, nur geschieht dies anämisch und hochglanzpoliert und ist von einem geradewegs saturierten Odem, daß man am Ende gar nicht wissen möchte, ob Gitte wiederkommt. Es sind Wohlstandssorgen, die die Familie auseinanderzutreiben droht, anhand der Söhne wird von Typen erzählt, die Autotüren lässig mit dem Fuß zumachen, die mit „Ich werf’ heute Abend den Grill an, okayyyyy?!“-Platitüden auf Macher machen, die auch noch Kinder großziehen, die ganz normal Zowie heißen. Der Film ALLE ANDEREN hat schon Figuren aufgefahren, deren ausgestellte Jungbürgerlichkeit enervierte, hier nun erleben wir gerade mit den Söhnen zwei Typen, die schon jung die gleiche Strickjacke wie Papi tragen. Klar, man könnte sich locker machen und sagen, daß sind genau die Kinder, die Post-68er wie Gitte und Günther verdient haben, das Schlimme daran ist nur, daß da momentan so viele nachkommen. Und ganz ehrlich: Ins Kino geh’ ich auch, weil einen doch mehr anhebt als der Stoff, aus dem lästige Nachbarschaftsplausche sind.

Weitaus interessanter von einem porösen Familiengefüge erzählte Ursula Maier, die vor einigen Jahren mit HOME beeindruckte, in L’ENFANT D’EN HAUT. Der 12jährige Simon mogelt sich mit Skipaß unter die Pistenfreunde, aber nicht des Abfahrtvergnügens wegen, er will ans Eingemachte und beklaut die Touristen: Jacken, Rucksäcke, Ausrüstungen und belegte Brote. Damit bringt er sich und seine ältere Schwester durch. Die sucht wenig ernsthaft Arbeit, treibt sich mit wechselnden Typen rum und läßt Simon auch an Weihnachten allein. Die Geschichte um eine merkwürdige Verwandtschaft erinnert in Duktus und Bildsprache an die Werke der Dardenne-Brüder und erzählt von großer Sehnsucht nach Wärme, die schließlich dazu führt, daß Simon der uninteressierten Louise sogar Geld anbietet, um sich an sie kuscheln zu dürfen. Da muß man schon schlucken, so nah geht das. Maier enttarnt in ruhigen Schritten die wahre Konstellation der beiden und entlarvt Louise als einen absolut unreifen, egozentrischen und völlig überforderten Menschen.

Starke Geschichten waren in diesem Jahr wieder einmal im gut kuratierten Panorama zu finden, da gefiel besonders der Film KEEP THE LIGHTS ON von Ira Sachs, den Teddy-Preis gab es verdient. Der Amerikaner erzählt eine Liebesgeschichte von herzzerreißender Passion, die von Erik und Paul. Über einen Telefonchat trifft der junge Filmemacher Erik auf den schönen, androgynen Paul. Erst haben sie Sex, später verlieben sie sich, dann ziehen sie zusammen. Doch immer wieder wird die Beziehung auf das Äußerste belastet, vor allem durch die Drogenabhängigkeit Pauls, der mit anderen Typen rummacht, dem auch ein Entzug kaum helfen kann. Sachs erzählt in teils retro-gekörnten Bildern seine Geschichte von der Fragilität des Glücks über den Zeitraum einer knappen Dekade vom Ende der 90er Jahre ausgehend. Er erinnert gerade zu Beginn an die früheren Werke Gus van Sants und versteht es, Männerküsse in wirklich schöne Bilder zu packen. Und Thure Lindhard als Erik spielt sagenhaft auf, gekrönt wird dessen Berg-und-Tal-Liebesfahrt von den herzerweichenden Liedern des zu früh an AIDS gestorbenen Komponisten und Sängers Arthur Russell.

Eine durchaus vergleichbare Personenkonstellation hält der deutsche Film WESTERLAND parat, er läßt den labilen Jesús auf den Deutschtürken Cem treffen. Der eine planlos, der andere mit dem Wunsch, nach seinem Reinigungsjob beim Ordnungsamt Landschaftsarchitektur zu studieren. Die beiden passen nicht zusammen, das ist klar, und doch ziehen sie einander an. Immer wieder enttäuschen sie sich, immer wieder reißt der eine den anderen mit und dabei fast ins Verderben. Tim Staffels Film ist auf Sylt angesiedelt, zur Winterzeit ohne Touri-Abziehbild, er weiß mit zwei interessanten Figuren zu begeistern. Leider vertraut er nicht darauf und verschenkt letztendlich diesen bis dahin schönen Film, als er im letzten Drittel Cem einen Wandel anträgt, ihn zum Choleriker werden läßt, was zu dem Jungen mit den schönen Mädchenaugen weder paßt, noch der Geschichte zu Glaubwürdigkeit verhilft. Er zerstört regelrecht den Zauber des still erzählten Films, was schade ist, wo ihm doch gerade die zaghafte Annäherung der Jungs so überzeugend gelang.

Schwules Kino hat im Panorama seit jeher Tradition, und in diesem Jahr gab es einen seltenen Beitrag aus Vietnam, den vielleicht ersten so explizit schwulen Film von dort, mit dem die Zunge lockernden Titel HOT BOY NOI LOAN – CAU CHUYEN VE THANG CUOI, CO GAI DIEM VA CON VIT. International betitelte man Vu Ngoc Dangs Werk recht knapp mit LOST IN PARADISE. Das paßt ganz gut, denn mit geradezu paradiesischen Vorstellungen landet das hübsche Jüngelchen Khoi in der Metropole Saigon, geflohen vor der Enge der Provinz, und nun geradezu in die Fratze des Bösen gestolpert, denn Khoi wird von einem jungen Pärchen verführt und ausgeraubt. Dong, der gerissenere unter den Dieben, haut schließlich mit der Beute ab, weshalb sein Ex Lam wieder auf den Strich muß. Klar, daß sich Khoi und Lam noch einmal ganz anders begegnen und sogar verlieben müssen. Klingt nach Seifenoper, und genau das ist es auch. Eine, die einigen Spaß macht, die das Herz berührt, die zuckrig-dick aufträgt, die aber auch durchaus ernsthaft von den Schattenseiten des zur Konsumgesellschaft auswachsenden Vietnams mit allen sozialen Konsequenzen erzählt: Stricher, Nutten und verarmte Behinderte stellen das sich jeden Tag mühsam durchboxende Personal. Eine exakt fokussierte Sozialstudie im Sinne von Ken Loach oder Mike Leigh hatte Vu Ngoc Dang natürlich nicht im Sinne, ihm ging es wohl eher um das ganz große Gefühl, weshalb in diesem Film die honigsüße Musik mit gehörigem Pathos peitscht, die hübschen Jungs immer wieder sturzflutartig weinen, sich leidenschaftlich lieben und immer wieder zurückstoßen, und in dem am Ende sogar gestorben wird.

Von schwulem Lebensgefühl erzählte auch der Wahl-Leipziger Ringo Rösener in seinem Porträtfilm UNTER MÄNNERN – SCHWUL IN DER DDR, ein durchaus gelungenes Debüt, das vor allem von seinen interessanten Gesprächspartnern profitiert. Zu Wort kommen Akademiker, Künstler und einmal mehr der bekannte Szenefriseur Frank Schäfer sowie der DDR-Anecker Eduard Stapel, dem man einst die Ordination zum Pastor verweigerte, worunter er aktuell auch finanziell leidet. Sie alle erzählen von den Schwierigkeiten des Outings, der Heimlichtuerei auf den einschlägigen Klappen, aber auch von den Überraschungen in der Provinz. Aufgeräumt wird mit dem ewig währenden Klischee, daß schwules Leben in der DDR geradezu paradiesisch war, deutlich wird, daß es kein „So lief es“-Schema für schwules Leben in der DDR gab, und Rösener findet neben witzigen Pointen auch immer wieder passende Formspiele, wie das auf den Pedalspuren von Philipp, dem schwulen Lehrer aus COMING OUT. Beim Dokumentarfilm gefiel noch ein weiterer: Andreas Dresen heftete sich nach neun Jahren wieder an die Fersen eines Möchtegernentscheiders, und in HERR WICHMANN AUS DER DRITTEN REIHE kommt er der Person Hendrik Wichmann – nach dem überraschend holprigen Einstieg – erneut sehr nah, zeigt ihn durchaus als gereiften Lokalpolitiker und Familienvater, der sich aber noch immer jeden Allgemeinplatz zu eigen macht und an den Untiefen der Kommunalpolitik abreibt: Zugtüren, die nicht geöffnet werden, trotz Halt im Bahnhof von Vogelsang, Probleme bei Rentnerverein und Feuerwehr, und nicht zu vergessen das schier unlösbare Problem mit den sensiblen Schreiadlern, wo man doch dringend mit dem Radweg beim Bürger punkten möchte. Dresen gelang einmal mehr ein amüsanter, aber auch nachdenklicher Exkurs in die Welt der „So!“-Sager, von denen Wichmann ein Musterbeispiel abgibt.

Der vielleicht nachhaltigste Film war einer, dessen Buchvorlage immer wieder als unverfilmbar bestaunt wurde, worauf man nicht wirklich etwas geben muß. Gerade dann, wenn man sieht, wie Julian Roman Pölslers Adaption von Marlen Haushofers „Die Wand“ gelang. Freunde des Buches werden aufatmen können, denn den schwer auf die Brust drückenden Duktus der literarischen Vorlage kriegt Pölsler auch im Film hin, er tat gut daran, sich streng an die Textvorlage zu halten, diesen inneren Monolog aus lyrischen, bisweilen philosophischen und doch so überlebensnüchternen Ausführungen einer namenlosen Frau, die sich in einer Bergregion in Österreich von der Natur gefangen sieht, weil sie durch eine nicht sichtbare Wand eingeschlossen wird. Sie ist der einzige Mensch, alles scheint tot, nur der Hund, später eine Kuh und zwei Katzen sind ihr zur Seite. Die teils knochenharten Jahreszeiten im Wechsel, die Nahrungsbeschaffung bei dem, was Wald und Boden hergeben, und dabei doch immer nur ein Ziel: den Tag überstehen. Das Thema von Haushofers Buch ist eine überbordende Angst, eine tiefe Depression, und dieses Gefühl des Ein- und Ausgeschlossenseins, diese Furcht vor dem endgültigen Abgrund ist Pölsler zu einem – auch tontechnischen – Meisterwerk gelungen. Zu einem schauspielerischen ohnehin, denn derart uneitel, ganz ohne Manierismen und ohne jedes Pathos kämpferisch hat man Martina Gedeck lange nicht gesehen. Sie leiht dem Film neben einer beeindruckenden physischen Präsenz auch ihre Stimme als Erzählerin. Wenn man ihr zuhört oder in die angsterfüllten Augen schaut, dann weiß man, daß ihre Filmfigur sich wirklich vor der Herbstkrankheit fürchtet.

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.