NUNCA VAS A ESTAR SOLO

Kämpferische Väter, überlebensgroße Entscheidungen und Gérard allein im Wald

Ein Rückblick auf die 66. Berlinale

[ 04.03.2016 ] Es war schon anders in diesem Jahr. Der Auftakt ein gelungener, die Programmauswahl eine wesentlich stärkere als die des letzten Jahres, bei der man nicht selten das Gefühl hatte, wertvolle Lebenszeit zu verschwenden. Und das auch noch ausgerechnet am Potsdamer Platz, diesem städteplanerischen Ungetüm, nein, in diesem Jahr spielte sogar das Wetter mit! Es ist nicht zu unterschätzen, was ein paar Sonnenstrahlen vermögen, wenn man das Dunkel des Kinos verläßt, die letzten Tränen zu trocknen sind, denn zu heulen gab es jede Menge. Manchmal, weil das Erzählte urkomisch geriet, häufiger jedoch, weil viele Filme von Schicksalen erzählten, die anrührten, verführten, mitfiebern ließen.

Der chilenische Film NUNCA VAS A ESTAR SOLO war so einer. Alex Anwandter adaptierte dabei eine sich tatsächlich zugetragene Geschichte, nach der in 2012 Neonazis in Chile auf der Straße einen offen schwul lebenden Jungen totschlugen. Anwandter erzählt natürlich von der Grausamkeit des Geschehens, man mag kaum hinsehen und -hören, als die Gewalt über den 18jährigen Pablo herfällt. Doch im Fokus der Geschichte steht vielmehr die Paareskonstellation aus Pablo und seinem Vater Juan. Der Junge mit dem schönen Lächeln studiert Tanz, schminkt sich, hüpft ins Paillettenkleid, probt hingebungsvoll zu Juan Gabriels herzbrecherischem Schmachtfetzen „Ya lo se que tu te vas“, trifft sich mit Felix, während der schon betagte Vater gebeugt, mit ausgebeulter Aktentasche täglich zur Arbeit trottet und noch immer auf eine höhere Position hinarbeitet.

Das Verhältnis der beiden ist ein routiniertes, ein durchaus liebevolles, Juan akzeptiert seinen Jungen eben so, wie er ist. Und als es zu diesem ungemein brutalen Überfall auf seinen Sohn kommt, der sich vom feigen Felix aufs Häßlichste verraten sieht, kämpft der Vater für das Überleben seines Kindes und für Gerechtigkeit. Interessant geriet, wie die Perspektiven sich drehen, schwer berührend ist, wie sich einer in Juans Alter aus lauter Liebe noch einmal zu einem derart schweren Kampf aufmacht, und schockierend ist für uns zu erkennen, daß die Welt eben doch keinen Deut friedlicher geworden ist.

Von Abwesenheit oder Versagen der Väter erzählt das moderne Kino aus gutem Grund häufiger, in diesem Jahr waren mehrere beeindruckende Filme darüber zu sehen. AGONIE, eine deutsch-österreichische Koproduktion, begleitet zwei unterschiedliche junge Männer durch ihren Alltag, der – wen wundert’s? – vor allem aus Druck besteht: väterlicher Druck, permanenter Leistungsdruck ohnehin, dann noch der, welcher entsteht, wenn Hormone verrückt spielen. Der schmale Möchtegern-Rapper Alex wächst in recht prekärem Milieu auf, versucht, den dünnen Ärmchen zu mehr Muskelmasse zu verhelfen, die Freundin läuft ihm weg, die Berührungen seines besten Freundes sind ihm plötzlich zu viel. Der etwas ältere Christian wächst behutsamer, allein mit seiner Mutter auf, geht in seinem Jurastudium auf. Einer der beiden wird am Ende ein Mädchen zerstückeln und in Wiens Mülltonnen verteilen. Der rohe Duktus, der Schnitt und das oft wie beiläufige Spiel erinnern an Hanekes Frühwerke à la BENNYS VIDEO, dabei gelang dem aus Paraguay stammenden Regisseur David Clay Diaz ein nüchternes, zudem eindringliches Porträt einer verstörten Jugend, die sich einmauert, alleingelassen und komplett überfordert ist.

Aus einer ganz anderen Zeit, aus den 50ern nämlich, erzählt INDIGNATION, das Regiedebüt des Erfolgsproduzenten James Schamus nach dem Buch „Empörung“ von Philip Roth. Marcus rebelliert gegen seinen übervorsorglichen Vater, der eine koschere Metzgerei betreibt, und um nicht in den Koreakrieg ziehen zu müssen, tritt er ein Studium in Ohio an. Auf dem College gehen die Kämpfe aber weiter, gerade für einen atheistischen Sturkopf wie Marcus, der sich – zu Recht – den seltsamen Dogmen des Instituts verweigert, der sich ausgerechnet in Olivia verliebt, der ein „gewisser Ruf“ vorauseilt, und die Schnitte an den Handgelenken trägt ...

INDIGNATION ist ein trotz oder eben wegen seiner ruhigen Erzählweise umwerfender, ein romantischer und zugleich ernüchternder Film geworden, einer, der von Ungehorsam, von Selbstbestimmung und von tragischen Fehlentscheidungen erzählt. Und einer, der einen staunen läßt, welche prächtigen Sätze das moderne Kino bereithalten und dabei frische Talente wie Logan Lerman und Sarah Gadon zu Höchstleistungen motivieren kann.

Großartige unverbrauchte Gesichter bot auch der vielleicht schönste Film des Festivals – André Techinés QUAND ON A 17 ANS. Er erzählt von Damien und Tom, die aufs selbe Gymnasium gehen. Während Damien behütet in der Stadt bei seinen Eltern aufwächst, läuft Tom, das von einfachen Leuten adoptierte Kind maghrebinischer Herkunft, jeden Tag stundenlang von der einsamen Bergfarm zur Schule und zurück. Sie werfen sich Blicke zu, bisweilen neugierig, meist jedoch von seltsamem Mißtrauen, das auch dadurch entsteht, daß beide immer zuletzt in die Sportmannschaft gewählt werden, sie Außenseiter sind. Diese Zerrissenheit kanalisiert sich aber nicht in ein Zweckbündnis, ganz anders, sie prügeln sich bald wie die Tiere. Nicht nur einmal! Als Toms Mutter ins Krankenhaus muß, nimmt Damiens Maman den Jungen bei sich auf, Platz ist ohnehin, da ihr Mann mal wieder im Kriegseinsatz ist. Die Stimmung zwischen den Jungs bleibt eine aufgeladene, so oder so ...

Techiné gelang ein wild-sinnlicher Film, der an seinen Klassiker WILDE HERZEN gemahnt und diesen eigentlich überragt. Wie sicher, fiebrig, leidenschaftlich er von Verliebtsein, pubertärer Verstörung, Trauer, Angst und Verlangen erzählt, ist entrückend, und wenn Damien mit seinen reizenden abstehenden Ohren zu seiner Mama sagt, daß er in letzter Zeit ständig heulen muß, dann laufen einem selbst die Tränen.

Daß das Leben bisweilen Fragen stellt, die zu beantworten uns schlichtweg überfordert, davon weiß auch der bewegende Film 24 WOCHEN zu erzählen. Sie sind ja bereit, diesem angeschlagenen Leben ans Licht der Welt zu verhelfen. Astrid und Markus gehen es durchaus couragiert, selbstbewußt und mit einigem Zweckhumor an, Eltern eines „Mongos“ zu werden. Namen werden bereits durchgegangen, Freunde involviert, und dann grinst die häßliche Fratze des Schicksals einmal mehr: einen Herzfehler hat der Kleine im Bauch von Astrid auch noch.

Es sind überlebensgroße Entscheidungen, die dem Paar, noch mehr aber Astrid abverlangt werden, und die Regisseurin Anne Zohra Berrached hat darüber einen eindringlichen, unausweichlichen, klugerweise nicht kommentierenden Film gemacht, der dem Zuschauer geradezu physisch weh tut, der ihn gemeinsam mit seinen Hauptfiguren durch ein emotionales Wechselbad jagt, an dessen Ende man zwar erschöpft das Kino verläßt, in der Gewißheit jedoch, einen mutigen, ungewöhnlichen und die häufige Ich-Bezogenheit des jungen deutschen Kinos überstrahlenden Film gesehen zu haben.

Die Berlinale ist immer auch Tummelplatz der großen Stars, und einer, den man ohnehin nicht übersehen kann, ist der unverwüstliche Gérard Depardieu. Es gibt nicht wenige, die jetzt abwinken, Depardieus private Ausfälle überschatten da wohl sein unbestrittenes Können. Ich bleib’ an seiner Seite und er für mich einer der größten Schauspieler des französischen Kinos. Depardieu kam mit zwei Filmen an die Spree, die unterschiedlicher nicht sein können und eben dieses immense Talent unterstreichen.

Für THE END drehte er nach VALLEY OF LOVE zum zweiten Mal mit Guillaume Nicloux, die Rolle muß ihm, dem unkonventionellen Anecker, gefallen haben: physisch, wortkarg, Gérard allein im Wald, in neun Tagen war das Ding im Kasten. Er spielt einen Jäger, der mit seinem Hund frühstückt, mit ihm spricht, sich schließlich auf die Hasenjagd macht – und sich verläuft. Yoshi hat sich längst davongemacht, und nachdem der namenlose Jäger in einer Höhle nächtigt, ist am Morgen auch noch sein Gewehr verschwunden. Depardieu schimpft, flucht, ächzt, schwitzt, keucht und kämpft sich orientierungslos durch die Wildnis. Halluziniert der beleibte Jäger, oder sind die schwarzen Skorpione, die ekligen Würmer und die plötzlich auftauchende nackte Frau echt? Nicloux erzählt von überbordender Einsamkeit, von einer großen Depression und – der unmißverständliche Titel läßt es ahnen – von einem Abschied.

Eine ganz große One-Man-Show Depardieus, voller Körperlichkeit und Verletzbarkeit, die sich auch, aber eben ganz anders, in SAINT AMOUR zeigt. Wenn man erwähnt, daß die beiden Querköpfe Gustave Kervern und Benoît Délepine Regie geführt haben, ist die

Marschrichtung klar: Schräg wird diese Vater-Sohn-Geschichte, aber eben nicht nur, denn die beiden Filmemacher haben gemeinsam mit ihren Darstellern Depardieu und als dessen Filmsohn Benoît Poelvoorde einen anrührenden und durchaus auch komischen Film gedreht. Eine Reise durch die Weinregionen soll es sein, und eine Annäherung zwischen dem einsamen Vater und seinem recht tölpelhaften, nicht weniger einsamen Sohn wird es außerdem. Die zwei Viehbauern werden nicht nur mit der verstorbenen Mutter und Ehefrau telefonieren, ihnen wird Venus begegnen und Michel Houellebecq im Schlafanzug außerdem. SAINT AMOUR ist ein liebevoller, manchmal wunderbar idiotischer und immer doch zärtlicher Film geworden. Wie gesagt – mit einem unglaublich überzeugenden Gérard Depardieu, der zudem Mut zeigt zu reichlich schräg sitzendem Haarersatz.

Und eine Empfehlung zum Schluß, einmal mehr aus dem Filmland schlechthin. Die Franzosen Olivier Ducastel und Jacques Martineau, genau, die von MEERESFRÜCHTE, haben sich mit THÉO ET HUGO DANS LE MÊME BATEAU von der Côte d’Azur in ein verblüffend unverbraucht gefilmtes nächtliches Paris gestürzt, wobei der endlos scheinende, enervierende Auftakt in einem schwulen Sexclub durch den Fortlauf einer ungewöhnlichen Geschichte des Verliebens dann doch noch seinen Sinn kriegt. Nach heftiger Vögelei machen sich Théo und Hugo auf den Heimweg, versichern sich, daß dieses Kennenlernen irgendwie anders, besonders war, doch plötzlich dreht sich der Taumel in Panik. Theo hatte im Eifer das Kondom vergessen, Hugo ist HIV-positiv.

Die folgende hysterisch, angstvoll und mit Schuldzuweisung angepeilte, komplett unromantische Postexpositionsprophylaxe nehmen die beiden Regisseure als Vorlage für eine so ziemlich in Echtzeit erzählte, durch wunderbare Schauspieler getragene und dann doch romantische Geschichte des Verliebens. Théo und Hugo teilen aus, stecken ein, sie krallen sich an das schon wieder zerbrechliche Glück wie kleine Kinder, denen man das Spielzeug wegnehmen will. Das rührt dann doch an, und was so dunkel begann, endet vielleicht nicht in gleißender Heile-Welt-Stimmung, aber immerhin gibt es Hoffnung. Und das ist doch heute schon was, wenn nicht gar alles!

[ Michael Eckhardt/Richard Knauer ]