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Berlin Syndrom

Die (beinahe) allerletzte Fußgängerin

„Ein Rucksack voller Träume und das Herz voll Sonnenschein.“ Heinz Erhardts schmissig-eingängige Filmhymne auf die Deutschlanderkundung per pedes, mit nichts als einem Bündel voller Tatendrang, Wechselschlüpfern und Pausenbroten auf dem Rücken, gehört wohl eher zur Marginalgeschichte der Kinokultur. Daß einem nun – bei einem australischen (!), unter die Fingernägel und auf das Nervenkostüm zielenden Thriller (?) – ausgerechnet dieses Liedchen auf die Lippen kommt, hat Gründe. Zunächst ganz assoziative.

Denn Clare, die weibliche Hauptfigur aus Brisbane, bereist Deutschland mit allerhand verträumten Vorstellungen von der „historischen Nahtstelle“ im Gepäck, an der sich DDR-Architektur und BRD-Weltläufigkeit aufs vermeintlich Aufregendste begegnen. Natürlich reden wir von Berlin – und nur ganz am Rande von Dresden, das die kulturbeflissene Touristin wegen ungünstiger Umstände vermutlich erst später im Leben besuchen kann. Wenn sie denn noch eins hat.

Als diese junge Frau von der anderen Seite des Globus’ mitten in Friedrichshain-Kreuzberg ausgespuckt wird, hält man noch alles für möglich – eine Shabby-Chic-Romanze mit dem Englischlehrer Andi, ein Selbstfindungsdrama, das sich in entvölkerten Berliner Altbauten sucht, ein Familien-Psychogramm, das diesen Andi mit seinem Vater und der einst „abgehauenen“ Mutter konfrontiert. Cate Shortlands Filmografie ist vielversprechend, aber zu kurz und versatil, um Folgendes vorauszuahnen: eine sehr schiefe Genre-Variation über einen eigentlich umgänglichen Psychopathen, der seinen Damenbesuch nicht mehr weggehen läßt. Die Tür bleibt zu, Clare ist gefangen, monatelang, und weiß nicht, ob ihr die mitgebrachten Blumensträuße oder Andis unvermittelte Gewaltausbrüche größere Angst machen.

Tatsächlich ist es schwierig, dieser Verfilmung des Romans von Melanie Joosten mit dem nötigen Ernst, tja, beizuwohnen. Aber genau das wird hier offenbar eingefordert, vor allem durch die kuriose politische Dimension, mit der sich Shortlands Steinbruch aus papierenen Dialogen, halbbelichteten Charakteren und wechselnden Bildsprachen beschwert. Das multinational besetzte Ensemble spielt denn auch, was es für richtig hält – sie die gejagte Kreatur, er den doppelgesichtigen Allerweltsburschen und Matthias Habich einen sympathisch-zerstreuten Professor, der zu seinem Sohn partout nicht passen will.

Originaltitel: BERLIN SYNDROME

Australien 2017, 116 min
FSK 16
Verleih: MFA

Genre: Thriller, Drama, Literaturverfilmung

Darsteller: Teresa Palmer, Max Riemelt, Matthias Habich

Regie: Cate Shortland

Kinostart: 25.05.17

[ Sylvia Görke ]