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Das bessere Leben

Bürgerträume und was sie kosten

Im Kühlschrank liegen Biolebensmittel für das abendliche Geschäftsessen des Ehemannes bereit. Eine todschicke Eßgruppe wirft Schatten aufs weitläufige Parkett. Vorm Balkon wabert der Pariser Stadtverkehr vorbei. In der Redaktion einer Frauenzeitschrift wartet man auf ihren Artikel. Und Anne, Journalistin, Mutter, Hausfrau und Königin dieses Trendwohnbereiches, setzt sich an den selbstredend schmucken Laptop und beginnt mit der Arbeit.

Das Thema: junge Frauen, die ihr Studium im sündhaft teuren Paris mit Prostitution finanzieren. Die Überraschung: Sie sind gepflegt, intelligent, charmant und sagen Sätze wie: „Ich bin sehr organisiert.“ Charlotte und Alicja, exemplarisch aus einer Flut von einschlägigen Annoncen herausgegriffen, berichten Anne unverblümt von Fellatio, Rollenspielen, Leberflecken, gemeinsamem Kochen und rührender Bettgewöhnlichkeit, meistens jedenfalls. Nur halt gegen Geld und mit Männern, die ihre Väter sein könnten. Oder eben Gäste von Annes erlesenem Bioabendmahl, wer weiß.

Raffiniert eingefädelt als journalistische Recherche mit Interviewsequenzen, aus denen episodische Erzählfragmente wachsen, inszeniert die polnische Regisseurin Małgorzata Szumowska nichts weniger als eine Karambolage von Lebensentwürfen. Sie fällt deswegen so verheerend aus, weil keine Vorfahrtsregeln gelten. Sie widersprechen sich ebenso gut, wie sie sich ergänzen, beneiden und bestaunen. Ein halbdurchlässiges Spiegelbild, das hier wie dort Irritierendes zeigt, und dies durchaus mit der Distanz erzwingenden, gleichwohl folgerichtigen Hochglanzoptik von Lifestyle-Magazinen.

Gespielt von einer sich fast schamlos in alle Facetten der Figur versenkenden Juliette Binoche, wird Anne unversehens von der Interviewerin zum Gegenstand einer peinlichen Selbstbefragung: Hat sie für ihr bürgerliches Glück wirklich weniger von sich hergegeben als diese Mädchen? Allerhand Explizites wird uns zugemutet – Sex als Form der Kommunikation, nicht immer ganz frei von Mißverständnissen. Daß aber auch eine widerspenstige Kühlschranktür oder ein unhandliches elektrisches Messer in der Lage sein sollen, Unausgesprochenes auszuplaudern? Sicher, zumindest bei Szumowska.

Originaltitel: ELLES

Polen/F/D 2011, 99 min
FSK 16
Verleih: Zorro

Genre: Drama

Darsteller: Juliette Binoche, Anaïs Demoustier, Joanna Kulig, Louis-Do de Lencquesaing, Andrzej Chyra

Regie: Małgorzata Szumowska

Kinostart: 29.03.12

[ Sylvia Görke ]