Originaltitel: IL RACCONTO DEI RACCONTI

I/F/GB 2015, 134 min
FSK 12
Verleih: Concorde

Genre: Märchen, Fantasy, Horror

Darsteller: Salma Hayek, Vincent Cassel, John C. Reilly

Regie: Matteo Garrone

Kinostart: 27.08.15

3 Bewertungen

Das Märchen der Märchen

Freigeistiges, wildes Fabulieren ohne Rücksicht aufs Kindchenschema

Damit hatte keiner gerechnet, daß der für den Mafiafilm GOMORRHA allseits gefeierte Matteo Garrone beim Filmfestival in Cannes ausgerechnet mit einem Märchenfilm anrückte. Und die emsig versammelte Presseschar durfte unter brütend heißer Mittelmeersonne rätseln, ob man eben halluzinierte, oder man doch staunen, klatschen, sich schütteln oder einfach sprachlos bleiben soll. Die Klügeren unter ihnen erkannten, worum es sich beim Gesehenen handelte: um eine schrille, ungezügelte, bildgewaltige, manchmal kindische, jedoch gottlob kaum kindtaugliche Phantasmagorie, in der auf Grenzen des Genres gepfiffen wird, die sich als Stinkefinger auf zu erwartende Sehgewohnheiten und Stilmittel versteht, die einfach zeigt, wozu Kino fähig ist, wenn es mit Lust und Spielfreude erzählt wird. Und wenn nicht das Märchen, was dann böte einen Spielplatz ohne Grenzen?

Die Handlung, die sich aus der Verquickung dreier Erzählstränge versteht, ist dabei eher schlicht. Drei Königreiche sollen es sein: In einem läßt sich die Königin kaum von tanzenden Kobolden amüsieren, ihr Flunsch, den sie dauerzieht, hat Gründe. Nichts sehnlicher wünscht sie sich als ein Kind. Um schwanger zu werden, muß ihr treutumber Mann ein Seeungeheuer töten, diesem das Herz rausschneiden, die von Fruchtlosigkeit geplagte Adlige soll es blutig essen, dann klappt es auch mit der Leibesfrucht. Einen König plagen ganz andere Leibesnöte. In seiner schier unstillbaren Geilheit entflammt er für eine vermeintlich junge Dame – allein ihres Gesanges wegen. Der Finger, den sie ihm reicht, geht als jugendlich noch durch, als die Gute dann sich aber neben dem auf Körperlichkeit insistierenden König bettet, fährt er wie ein Blitz aus den Federn – geriatrische Teigtaschen stehen nicht auf seinem Speiseplan. Und schließlich füttert ein weiterer, vereinsamter König einen Floh zu Monstergröße heran, das Tier kann zwar einige Tricks, stirbt aber elendig, nur der gehäutete Rest verbleibt dem Royal. Der trauernde König verspricht demjenigen seine Tochter, der errät, wessen Tieres Haut da aufgespannt ist. Auch ein Oger spielt mal Bingo ...

Der dramaturgische Leib ist durchaus ein wenig mager, wie das bei Märchen eben häufig ist, aber was Garrone daraus macht, welche optischen Delikatessen und Abscheulichkeiten er auffährt, wie er seine geradezu somnambulen Glücksjäger durch pittoresk-künstliche Landschaften und Kulissen mäandern läßt, das ist von höchster Ambition, die ungesehene Schauwerte, sanften Schauer und schrägen Witz gebiert.

Dabei muß Garrone gar nicht aufs Tempo drücken, im Gegenteil, der Rhythmus seiner Geschichte ist ein angenehm altmodischer. Garrone beeindruckt vielmehr in seinem Mut zu Gegensätzen und Referenzen: Während das Seeungeheuer eigentlich ausschaut wie Fuchur aus DIE UNENDLICHE GESCHICHTE, darf Salma Hayek mit gehörigem Schmackes in ein wahrlich ekelerregend triefendes Herz beißen. Es wird zudem eine Verfolgungsjagd im Labyrinth geboten, mit Boris-Becker-blonden Jünglingen, was ja per se einigen Horrortouch innehat und im Schnitt hier manchmal an SHINING erinnern läßt. Und wenn schließlich ein dressierter Floh aufläuft, der kleine Wägelchen zieht, dann grüßen der junge Jeunet und H.R. Giger in eigenwilliger Zweisamkeit.

Aus der kühnen Unbestimmtheit und der Vielzahl der Motive und Mittel entsteht ein beeindruckender Bauch- und Kopffilm, der lange nachwirken darf. DAS MÄRCHEN DER MÄRCHEN ist immer mehr wild-wüste Fantasy als Gutenachtgeschichte, wobei man als eine versöhnliche, wenn auch auf kühnen Umwegen herausgefilterte, Quintessenz verstehen darf, daß letztendlich doch alle nur geliebt sein wollen.

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.