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Das Turiner Pferd

Schlußpunkt, der letzte

Die Filme des Ungarn Béla Tarr atmeten immer schon das Gravitätische der Endgültigkeit. Wirkt doch im Grunde jedes seiner Werke wie ein Schlußpunkt in Form erzählerischer Ausdehnungen in manchmal exzessiv elegische Längen. Darin vereinzelte, sinnlose Menschenworte, wie hilfloses Flüstern in einer verstummenden Welt. Und die ebenso vereinzelten, sinnlosen Menschenhandlungen, die oft wie beschwert von kaltem Morast, wie die Bewegungen eines Erstarrens wirken. Gott hört nicht mehr zu, erzählt das auch, Gott schaut nicht mehr hin. Gott ist tot.Um bei DAS TURINER PFERD und Friedrich Nietzsche zu sein. Der beobachtete im Turin des Jahres 1889, wie ein Kutscher sein Pferd peitschte, woraufhin der Philosoph des Übermenschen sich weinend an den Hals des Tieres warf, so die Schläge auf sich nehmen wollend. Die Episode markiert den endgültigen Einbruch des Wahns in Nietzsches Leben, das noch bis 1900 fortdauerte. In Agonie, verstummt und reglos. All das schildert, knapp lakonisch, zu Beginn von DAS TURINER PFERD eine Stimme aus dem Off. Schließend mit der Feststellung, über das weitere Schicksal des Pferdes wisse indes keiner was.

Falsch! Tarr weiß was. Und zeigt es. Zeigt Kutscher, Tochter, Pferd. Ihre erbärmliche Behausung auf einsamer Ebene. Ihre täglichen Verrichtungen, die wirken, als würden sie wie ein hingenommener Fluch schon Jahrtausende auf diesem Mann und diesem Mädchen lasten. Morgens kleidet sie ihn an, abends aus. Zum Frühstück gibt es zwei Gläser Pálinka, am Nachmittag schlingt jeder eine Pellkartoffel in sich. Die Tochter holt Wasser am Brunnen, der Alte starrt aus dem Fenster. Es tobt ein Sturm, auch der scheinbar schon seit Jahrtausenden. Als das Pferd nicht mehr frißt, selbst nach Schlägen verweigert, sich im Joch zu bewegen, wird auch das hingenommen.

Es solle dies sein letzter Film sein, sagte Béla Tarr. Und in der Tat zeigt er hier noch einmal extrem verdichtet ein Verstummen und Verglimmen als Kino-Trance der langen Plansequenzen, ruhig atmenden Kamerafahrten, gemäldehaften Low-Key-Bilder unter einer diffizil ausgesteuerten Tonspur. Ja, man kann staunen, wie dieses jeglichem Zeitgeist den Rücken kehrende Kino bannt. In sechs Tage strukturiert sich dieser Weltabgesang. Einen siebten gibt es nicht mehr. Brunnen versiegt, Feuer erloschen. Das Dunkel weicht keinem Licht mehr. Der endgültige Schlußpunkt, er scheint gesetzt.

Originaltitel: A TORINÓI LÓ

Ungarn/F/CH 2011, 146 min
Verleih: Basis

Genre: Experimentalfilm, Drama

Darsteller: Erika Bock, Janos Derzsi, Mihály Kormos

Regie: Bela Tarr

Kinostart: 15.03.12

[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.