Noch keine Bewertung

Das Weiterleben der Ruth Klüger

Das zufällige Geschenk der Freiheit

Holocaustüberlebende sind in der öffentlichen Wahrnehmung oft nur eines: Opfer des Nationalsozialismus. Dabei endete ihr Leben ja gerade nicht im KZ, sondern begann mit der Befreiung, und deshalb fragt der Film zu Recht nach dem Wie dieses Weiterlebens. Er hat sich dafür eine Protagonistin ausgesucht, die viel Streitbares dazu zu sagen hat.

Literaturwissenschaftlerin, Feministin, Mutter, Bestsellerautorin, Professorin, Jüdin, Wienerin, Holocaustüberlebende: Ruth Klüger ist vieles. Mit manchen Aspekten ihres Lebens und ihrer Person ist sie glücklich, mit anderen nicht. Aber was sie auf keinen Fall sein will: Opfer. Das sie von der Vernichtung im Lager Bergen-Belsen verschont blieb, dort, wo kurze Zeit später und nur wenige Tage vor Kriegsende Anne Frank starb, verteidigt Ruth Klüger bei ihrem ersten Besuch des Tatorts als reinen Zufall. Es ist die Weigerung, Anerkennung für etwas zu erhalten, wofür man selber eigentlich gar nichts kann. Denn der Widerstand, sagt sie beim Blick auf die Massengräber, hat den Krieg nicht beendet, sondern die Alliierten.

Der Film reist mit ihr nach Deutschland, Israel, Österreich und Amerika. Ihre Bücher zum Thema Holocaust haben sie berühmt gemacht. Doch der Ruhm ist kein Schlafmittel, sagt sie. Er macht nichts vergessen und hilft auch nicht beim Vergeben. Die Greuel der Nazis haben ihre Kindheit für immer kaputt gemacht, die Wurzeln zerschlagen. Und doch hat die Erfahrung sie nicht mehr geprägt wie andere Elemente, die Eltern zum Beispiel. Die Geschichte ist ein Teil ihres Lebens, nicht mehr und nicht weniger.

Es geht nicht um die Beziehung zwischen Opfer und Täter, sondern um die Beziehung zwischen Opfersein und Freisein. Und um die Suche nach Heimat. Die Urheimat Österreich und die Geburtsstadt Wien sind ihr durch die Kindheitserinnerungen für immer vergrault. Ihre Wunschheimat Israel wurde ihr damals verwehrt. So landete sie in Amerika. Um alles hinter sich zu lassen, hat sie ihre Kinder nicht zweisprachig erzogen. Sie wollte Amerikanerin sein. Später, als sie begann, Germanistik zu studieren und damit ihr ganzes Leben der Sprache ihrer Henker widmete, schaffte das eine große Distanz zwischen ihr und ihren Kindern.

Ein interessanter Film, der neue Blickwinkel auf ein arg strapaziertes Thema eröffnet. Starke Emotionen vermag er indes nicht zu wecken. Da empfiehlt sich wohl eher die Lektüre eines der Bücher der Protagonistin.

Österreich 2011, 83 min
FSK 0
Verleih: Kairos

Genre: Dokumentation, Biographie

Stab:
Regie: Renata Schmidtkunz
Drehbuch: Renata Schmidtkunz

Kinostart: 13.06.13

[ Marcel Ahrenholz ] Marcel mag Filme, die sich nicht blind an Regeln halten und mit Leidenschaft zum Medium hergestellt werden. Zu seinen großen Helden zählen deshalb vor allem Ingmar Bergman, Andrej Tarkowskij, Michelangelo Antonioni, Claude Sautet, Krzysztof Kieslowski, Alain Resnais. Aber auch Bela Tarr, Theo Angelopoulos, Darren Aronofsky, Francois Ozon, Jim Jarmusch, Christopher Nolan, Jonathan Glazer, Jane Campion, Gus van Sant und A.G. Innaritu. Und, er findet Chaplin genauso gut wie Keaton ...