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Der böse Onkel

Ein Film wie ein Stück Toblerone

Zwei Frauen stehen, von oben bis unten mit sterilen Bandagen verbunden, an einem Fluß und motzen übereinander. Es braucht eine Weile, bis man sich in Form und Inhalt dieses Filmexperiments hineingefunden hat. Denn was auf diese harsche Eingangssequenz folgt, ist ein fast zweistündiges Schnitt- und Dialoggewitter. Urs Odermatt, Schweizer Theaterautor und vor ein paar Jahren bei uns als Regisseur von MEIN KAMPF in Erscheinung getreten, hat hier sein eigenes Theaterstück verfilmt und dabei Film als Form völlig in Frage gestellt. Was im Ergebnis recht anstrengend, aber auch sehr erfrischend ist.

Doch worum geht’s? Trix Brunner, eine alleinerziehende Mutter, ist vor Jahren aus der Stadt ins Dorf gezogen. Die Schwierigkeiten, welche Zugezogene auf dem Land haben, sind ja bekannt. Doch die Heldin unseres Films hat es ungleich schwerer, beschuldigt sie doch den Sportlehrer, er habe ihre minderjährige Tochter sexuell belästigt. Das ganze Dorf ist natürlich empört – aber nicht über den Lehrer, sondern über die Mutter. Schließlich ist der Beschuldigte ehemaliger Landesmeister im Turmspringen und somit ein Nationalheld. Ihm selbst ist die vollkommen kritikresistente Anhimmelung der Dorfbewohner über die letzten Jahre offensichtlich schwer zu Kopf gestiegen. Und so kühlt er sich gerne vor der Kamera unter der Dusche ab und präsentiert stolz seinen Astralleib und erzählt voller Stolz von seinem speziellen Ausdauertraining für die Mädchen des Dorfes. Dabei müssen alle nur mit einem Handtuch bekleidet in der Halle rumlaufen, wobei es immer ein Handtuch weniger gibt als Mädchen.

Daß so etwas bei der Dorfbevölkerung keine öffentliche Skepsis oder gar Auflehnung aufkommen läßt, ist schon eine sehr gut beobachtete und scharf dargestellte Analyse von Gruppendynamiken und Anbetungskult, die hier mit schwarzem Humor auf die Spitze getrieben wird. Humor, der einem im Halse steckenbleibt wie ein Stück Toblerone. Denn dieser Film ist kantig. Die Schauspieler sprechen direkt in die Kamera, Dialoge werden mehr gebrüllt als gespielt und Szenen vom Schnitt oft völlig zerstückelt. Es gibt Sequenzen, die wie Making Ofs wirken, Momente, die in ihrer Inszenierung ganz und gar surreal sind. Formal versprüht der Film also auf jeden Fall eine große anarchische Kraft.

Wie das mit dem Inhalt zusammenpaßt, muß jeder für sich herausfinden. Und im Zweifelsfall gibt es momentan parallel noch die Chance, sich DIE JAGD von Thomas Vinterberg anzusehen: gleiches Thema, ganz andere Machart.

CH/D 2011, 98 min
Verleih: déjà-vu

Genre: Satire, Drama

Darsteller: Jörg-Heinrich Benthien, Miriam Japp

Stab:
Regie: Urs Odermatt
Drehbuch: Urs Odermatt

Kinostart: 25.04.13

[ Marcel Ahrenholz ] Marcel mag Filme, die sich nicht blind an Regeln halten und mit Leidenschaft zum Medium hergestellt werden. Zu seinen großen Helden zählen deshalb vor allem Ingmar Bergman, Andrej Tarkowskij, Michelangelo Antonioni, Claude Sautet, Krzysztof Kieslowski, Alain Resnais. Aber auch Bela Tarr, Theo Angelopoulos, Darren Aronofsky, Francois Ozon, Jim Jarmusch, Christopher Nolan, Jonathan Glazer, Jane Campion, Gus van Sant und A.G. Innaritu. Und, er findet Chaplin genauso gut wie Keaton ...