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Der Fremde am See

Vom Lockruf der Wipfel und Lenden

Warum hinterm Berg halten? DER FREMDE AM SEE ist der Spätsommerfilm des Jahres. Ist wirklich nicht zu weit herausgelehnt, denn Alain Guiraudies Film ist ein wahrhaft faszinierendes Versprechen, ein schwüler Reigen der Begierde, ein taumelnder Tanz des Flirts. Erzählt wird die Geschichte eines Opfergangs, einer fatalen Obsession, eines knisternden Pas de Trois. Vielleicht aber auch allein eine Träumerei der Lenden. Doch zurück – wieso Drei? Nun, die zentrale Figur ist Franck, ein Mann mit Knabenfigur und eigentlich jeden Tag am See. Er setzt sich zu Henri, ein Dickbauch, ein ruhiger Beobachter Depardieuschen Formats. So gegensätzlich, so neugierig sind die beiden: der Obstverkäufer und der Holzfäller. Wobei der eine wirklich nur reden will, die Freundschaft sucht. Und dann schlägt Michel auf. Ein Burt-Reynolds-Klon mit Tom-Selleck-Gedächtnisbart, tatsächlich wie aus der Zeit gefallen, Geschmack ändert sich scheinbar nie: Die Herren am See lechzen, der Weg zum Wasser oder direkt in die Büsche führt auffallend oft an Michels Handtuch vorbei, auch Franck fühlt sich angezogen. Daran ändert auch nichts, daß er Zeuge eines Mordes wird, im Gegenteil, das Fieber steigt.

Bienvenue au manège! Mitten hinein in den Zirkus eines Muster-Cruisingareals entführt uns Guiraudie, und wie er dies tut: Dieses Lauern, diese Gier, diese Kreuzblicke, dieses unersättliche Ich-will, dieser Hunger nach Bestätigung oder einfach nur nach sexueller Entspannung, dieses Streifen durch das Schilf, dieses Schleichen unter den Bäumen, all die beiläufigen und doch absichtsvollen Grüße – ihm gelang ein sprichwörtlich knisternder Film, ein Sittengemälde ohne Soziallehrerzimmermief. Und ohne musikalische Effektmalerei, ohne ständige Orts- und Tempiwechsel. Im Gegenteil: Das allmorgendliche Bild, wie sich die Autos der – nun ja – Badegäste einordnen, das Ausrollen der Handtücher, die Hand zum Gruß, die Augen als Einladung – all das hat durchaus etwas Rituelles, etwas Gleichbleibendes. Nur der Wind wird zunehmend stärker. Guiraudie ist ein Meister der Effizienz – nur so viel Biographisches wie nötig, die Rätsel an der richtigen Stelle, keine Frage zu viel. Dafür herrlich skurrile, ebenfalls wie aus aller Zeit gefallene Figuren. Der Kommissar sei erwähnt, der hätte auch Chabrol gefallen: ein gebeugt laufender Kauz, ein die Hände hinterm Rücken verschränkender Interrogateur, der durchaus methodisch arbeitet und dennoch bedachtlos sein eigenes Grab schaufelt.

Den größten Reiz, neben der diabolischen Liaison zwischen Franck und Michel, übt das detailgetreue Zeichnen eines sozio-erotischen Biotops aus: ein See mit zwei Badestränden, die Heteros liegen im Sand, auf der anderen Seite erstrecken sich die Schwulen im Kies. Das Strandtuch allenfalls ein Zwischenstop, der Klang der rauschenden, Versteck bietenden Bäume wird zum Ruf der Verlockung. Es schwingt in jedem Fall neben all der Lust, der Geilheit, die – das kann man erwähnen – durchaus auch mit Bildern orchestriert wird, die über die scheue Abblendromantik des brav-modernen Kinos hinausgehen, eine gehörige Portion Verzweiflung mit – gegen die Einsamkeit, gegen das Alleinsein, das Abgeschriebensein. Das Lustvolle und die Panik gehen Hand in Hand, denn selbst Franck will eigentlich was Festes. Dafür trifft er aber die falschen Entscheidungen, er gerät in Schuld, liefert sich zunehmend einer verbitterten Sehnsucht aus, das Bad im See wird zur Mutprobe.

Aus dieser Zerrüttung entsteht eine Spannung, die im Kino selten geworden ist, und wenn Francks angstvolle Rufe im Nachtwald doch wieder der Begierde weichen, dann wünscht man dem naiven Mann mit dem Jungengesicht, daß all dies wirklich nur eine Träumerei der Lenden ist.

Originaltitel: L’INCONNU DU LAC

F 2012, 100 min
FSK 16
Verleih: Alamode

Genre: Schwul-Lesbisch, Thriller, Drama

Darsteller: Pierre Deladonchamps, Christophe Paou, Patrick d’Assumçao

Regie: Alain Guiraudie

Kinostart: 19.09.13

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.