Originaltitel: LES INVISIBLES

F 2018, 102 min
FSK 6
Verleih: Piffl

Genre: Tragikomödie, Poesie

Darsteller: Audrey Lamy, Corinne Masiero, Noémie Lvovsky, Déborah Lukumuena

Regie: Louis-Julien Petit

Kinostart: 10.10.19

5 Bewertungen

Der Glanz der Unsichtbaren

… gleißt als Definition von Menschlichkeit

Fast 8.00 Uhr vorm L’Envol, ein völlig normaler Tag nimmt seinen Lauf – Salma Hayek rüttelt ungeduldig am Tor, Brigitte Macron möchte wie ihre Mitstreiterinnen endlich unter die Dusche springen, und weiß jemand, wo Lady Di steckt?!

Spätestens hier sollte Verwunderung aufpoppen, daher: Wir reden nicht von impulsiven Miminnen, hygienebedürftigen Präsidentengattinnen oder auferstandenen Prinzessinnen, sondern sich so nennenden Obdachlosen, denen das L’Envol tagsüber ein Treff- und Lebensmittelpunkt ist. Sozialarbeiterinnen bieten Hilfe an, man tauscht sich aus. Indes schielt die Stadtverwaltung auf Zahlen, hat Schließung angeordnet, zu ineffizient scheinen bloß streng statistisch erhobene 4% Wiedereingliederung. Es gilt, ungewöhnliche Reintegrationsmethoden zu ersinnen …

Und gleich mal zu all jenen vergeistigten Mitmenschen gesprochen, die sich sofort eines inneren Kommentars bemüßigt fühlen: Ja, das hätte zum durchaus fiesen Sozialkitsch versacken können, genau solcher Sorte, die Aktrice Corinne Masiero beschreibt, „unglaubwürdiger Mist voller Klischees und Übertreibungen“ nämlich. Bleibt aber weit davon entfernt. Was also hat Regisseur Louis-Julien Petit vorbeugend getan? Zunächst einmal Darstellerinnen wie Masiero oder Audrey Lamy vertraut, die fehlendes Make-up, glitzerndes Beiwerk und fesche Klamottage ausgezeichnet kleidet, weil sie derlei Ablenkungsmanöver nicht benötigen, selbst schon leuchten, von innen quasi. Dazu tatsächlich auf der Straße lebende Frauen gecastet, sich ihrer nachdrücklichen Würde, Ironie und Durchsetzungswillens bedient. Statt gefeilt geschriebener Drehbuchzeilen Dialoge improvisieren lassen.

Da gefällt eine gewisse Ruppigkeit, ebenso die nur skizzierten Biographien, sie erlauben es, den Damen nahezukommen, ohne zwanghaft jede falsch genommene Vergangenheitsabzweigung ins Schlaglicht zu zerren. Wo endet die Realität, beginnt Fiktion? Hat Chantal wirklich ihren Gatten getötet, was sie, Verfechterin größter Aufrichtigkeit, in Vorstellungsgesprächen stets freimütig enthüllt, gern inklusive plastischer Details? Keine Ahnung, doch es steht exemplarisch für den hiesigen Humor, dessen Direktheit und Übermut immer Tragik umfließt. Auf der anderen Seite positionieren sich die Fürsorgerinnen, ihren Job als Berufung betrachtend, wortwörtlich selbstvergessen darin eingeigelt, Privates gibt’s kaum zu berichten, weg vom heiratswilligen Bruder oder einer Ehe am Abgrund. Weswegen der Titel eine schmerzhafte Spitze offenbart: Wer sind eigentlich die Unsichtbaren, ergo nicht Wahrgenommenen, Übersehenen – Brigitte Bardot & Co.? Oder die häufig gegen Windmühlen anrennenden Idealistinnen? Sie alle?

Man mag zur individuellen Antwort gelangen beim Ansehen, dann Eintauchen und später regelrechten Erleben eines unerschrocken zärtlichen Films, welcher gerade noch schwärmerisch eingefangene nächtliche Impressionen ganz schnell zur bedrückenden Räumungsaktion umzuformen vermag, Freudenschreien auf der Leinwand wahrhaftiges Echo verleiht und auch ehrliche Tränen vergießt. Er stellt schließlich sogar Platz für eine leise, schwer berührend unbeholfene Liebesanbahnung frei, und wenn diese wunderbaren Jetzt-nicht-mehr-Unsichtbaren uns nach den viel zu knappen 102 Minuten eines humanistischen Meisterstücks verlassen müssen, tun sie es auf die einzige ihnen gebührende Weise: strotzend vor kampfeslustigem Stolz über einen improvisierten Laufsteg wandelnd.

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...