Noch keine Bewertung

The Saddest Music In The World

Bier, Tränen und Wahnsinn - ein kanadischer Wintercocktail

Daß im Wein die Wahrheit liegt, weiß der Lateiner nur zu gut. Was man dem kanadischen Regisseur Guy Maddin allerdings ins Bier getan hat und ob das immer so wirkt, bleibt zu ergründen. Zumindest ist Bier die dräuende Ursuppe, der ganz besondere Saft dieses Films, den man schon deshalb als volltrunken bezeichnen darf. Obenauf schwimmt Lady Port-Huntly, eine Brauereikönigin aus dem verschneiten Winnipeg, das mit Stolz den Titel "traurigste Stadt der Welt" trägt. Beine hat die Lady vorerst nicht, aber doch einen untrüglichen Geschäftssinn für den Zusammenhang zwischen Depression und Alkoholkonsum. Während Europa anno 1933 auf den Zweiten Weltkrieg zusteuert, und die US-amerikanischen Nachbarn an der Prohibition verdursten, lädt sie ein zum internationalen Wettbewerb um die traurigste Musik der Welt.

Das Originaldrehbuch für den irrwitzigen Sängerstreit stammt von Kazuo Ishiguro, den man als Autor von WAS VOM TAGE ÜBRIG BLIEB als Meister der Zurückhaltung kennenlernte. Sollte davon noch etwas übrig geblieben sein, so ist es dem Wahnsinnigen von der Regie zum Opfer gefallen. Der nämlich dirigiert eine tosende Revue des Grauens in Grau, Schwarz und Weiß, farblich aufgelockert von ein paar Blutspritzern. Heillos deprimierte Mariachi-Bands im Duell mit spanischen Klagegesängen, ein siamesischer Flötist gegen Grabgetrommel aus Kamerun, Klezmer-Musikanten im olympischen Kampf mit einem abgemagerten Häuflein fiedelnder Zigeuner, Polen schlägt Deutschland, wenigstens dieses eine Mal. Und als wäre man von all dem noch nicht besoffen genug, spült es mit Bier, Musik und Melancholie auch noch eine verdrehte Familiengeschichte an.

Verwickelt sind: ein Broadwayproduzent samt anämischer Gespielin, sein Bruder Roderick, der das Herz seines Kindes im Einweckglas bei sich trägt und unter dem Künstlernamen "Gavrillo der Große" für das Volk der Serben in die Cellosaiten greift, sowie der trinkfeste Vater Fyodor, ein mäßiger Sänger und noch mäßigerer Chirurg. Dessen geschickten Händen verdankt Lady Port-Huntly jedoch ein gläsernes Paar Beinprothesen und Isabella Rossellini eines der im Wortsinn prickelndsten Kostüme ihrer Karriere. Denn leere Gläser, Pardon, Beine sind Maddins Sache nicht!

Sein bösartiges Kunstmärchen um eine Frau ohne Unterschenkel und einen Mann ohne Tränendrüsen ist im Gegenteil ein Plädoyer für den Überfluß - im Erzählen, in der Phantastik und nicht zuletzt in der Eitelkeit. Maddin verzichtet auf keine verrückte Arabeske, ist närrisch verliebt in die eigenen Einfälle, das Groteske, das geschmacklich Grenzwertige und die ruinösen Kulissen. Aber man hätte gewarnt sein können, eilt dem Kanadier doch der Ruf eines begabten Irren voraus. Dazu paßt, daß seine Filme regelmäßig verspätet im Kino ankommen. Er arbeitet mit den aufgerissenen Augen und Mündern der Stummfilmzeit, mit ihrem an den Bildrändern ausgefransten Schwarzweiß, mit melodramatischem Überschwang und lakonischem Understatement. Hier mit dem Herzen sehen zu wollen, wäre Zeitverschwendung. Denn wo das Bier in Strömen fließt, heißt es mit der Leber schauen lernen.

Originaltitel: THE SADDEST MUSIC IN THE WORLD

Kanada 2003, 96 min
Verleih: Weltecho

Genre: Schräg, Drama, Musik

Darsteller: Isabella Rossellini, Mark McKinney, David Fox, Maria de Medeiros, Ross McMillan

Stab:
Regie: Guy Maddin
Drehbuch: Kazuo Ishiguro

Kinostart: 07.12.06

[ Sylvia Görke ]