Originaltitel: UNA

Kanada/GB/USA 2016, 94 min
FSK 12
Verleih: Weltkino

Genre: Drama

Darsteller: Rooney Mara, Ben Mendelsohn

Regie: Benedict Andrews

Kinostart: 30.03.17

3 Bewertungen

Una und Ray

Lolitakomplexe – Peinliche Befragung einer zerstörerischen Liebe

Eine Nacht in einem Club. Die Musik ist laut genug, um Una und ihrer Gelegenheitsbekanntschaft etwas Rhythmus für den Sex auf dem Klo zu spendieren. Man sieht, daß sie einige Übung mit dieser Lust auf die Schnelle hat, mit Paillettenkleidern, die im Morgengrauen den Glanz verlieren, mit der übernächtigten Heimkehr in das, was einmal ihr Mädchenzimmer war. Una ist Ende 20 und nimmt sich in der kindlich dekorierten Wohnhöhle im Haus der Eltern aus wie Gulliver in Liliput. Nach solchen Nächten sind die Erinnerungsbilder am quälendsten: Sie selbst mit 13 Jahren, ein heißer Nachmittag im Garten, Grillen mit Nachbarn. Und mit Ray, jenem Mann Anfang 40, der Unas erster Beischlafgenosse wurde – in den Büschen, in einem billigen Hotel, in aller gebotenen Heimlichkeit.

Selten hat ein Prolog so viel geleistet. Schon in den ersten Minuten reißt hier eine poetisch verdichtete Gegenwart auf, die von der Vergangenheit nicht loskommt. Die wie in Eile hingeworfene Skizze eines Frauenlebens, das in einer Mädchenwelt feststeckt. Das Flüstern über eine justitiable Amour fou, die seit 15 Jahren bei Gericht und per Beschluß als „abgeurteilt“ gilt, aber für Una noch lange nicht erledigt ist. Mit „Down By The Water“ singt PJ Harvey dieser gleichermaßen irrlichternden wie zwingenden Einführung in Thema und Form ein unheilvolles Ständchen: „That Blue Eyed Girl Became Blue Eyed Whore.“ Aber was heißt schon blauäugig? Wie viel entschuldigt die seit Nabokovs „Lolita“ zum Verhängniszusammenhang avancierte kindliche Mutwilligkeit, die einen Erwachsenen zur Grenzüberschreitung „zwingt“?

Die Exposition gehört zu den Erweiterungen, die David Harrower seinem Theaterstück für die Filmadaption hinzufügte. Unter dem Titel „Blackbird“ reüssierte der schmale, auf Haut, Knochen und einen gestammelten Dialog reduzierte Einakter von 2005 auf internationalen Bühnen und empfahl für die Ausstattung nichts als „Cell Phone, Bag With Tissues, Water Bottle, Piece Of Paper, Trash.“ Im Film kommt Fleisch dazu: schlaglichtartige Flashbacks, visuelle Marken für komplexe Vor- und Nebengeschichten, für die der Theatertext meist nur das Wort zur Verfügung hat. Der Kern aber bleibt: das forcierte Aufeinandertreffen von Opfer und Täter eines Mißbrauchs, den beide immer noch Liebe nennen.

Una besucht (oder heimsucht) Ray. Unangekündigt, unvorbereitet. Ein Bild in einer Werbebroschüre führt sie in ein Lagerhaus in irgendeiner kleinstädtischen Peripherie. Nach seiner Haftstrafe und unter anderem Namen hat Ray hier Arbeit gefunden und stellt sich nun – wohl oder übel – dem erzwungenen Aufarbeitungsgespräch: über die Nacht vor 15 Jahren, über seine neue Frau, seine neue Identität, seinen neuen Sex – und seine alte Schuld. Der Krafttransfer vom Dialogskelett zur filmischen Rundplastik, modelliert um einen verbalen Schlagabtausch, dessen intimer Charakter stets im Widerspruch zur nüchternen Büroumgebung steht, gelingt eindrucksvoll.

Denn Regisseur Benedict Andrews, ein gestandener australischer Theatermann, der mit UNA UND RAY sein Leinwanddebüt gibt, weiß, wie man die Mittel und Wege des Films in den Dienst einer, respektive seiner, Geschichte stellt – ohne die voyeuristische Lust am spektakulären Tabubruch zu bedienen. Die Frage, die sich nach allen ach so reflektierten Gewißheiten stellt, bleibt verstörend: War Una, die einstige Kindfrau, der exklusive Supergau? Oder ist sie nur eine von vielen?

[ Sylvia Görke ]