RICKY, François Ozons neuester Geniestreich überzeugte

Von blutzapfenden Gräfinnen, fliegenden Babies und trauernden Jungs

Ein Rückblick auf die 59. Berlinale

[ 25.02.2009 ] Die Berlinale hat eine Eigenheit, die auf anderen Festivals gottlob so nicht zu beobachten und zudem eine ziemlich widerwärtige ist. Sobald es im Kinosaal dunkel wird, wittern viele Kollegen der berichterstattenden Zunft ihre Chance auf fünf Sekunden lausigen Ruhm, dann verlautbaren sie ihr Anrecht auf Aufmerksamkeit. Nein, sie rennen nicht hysterisch auf die Bühne, sie steigen auch nicht nackt auf ihre Stühle, es ist viel schlimmer: Sie warten auf diesen an sich so magischen Moment, nur um laut zu husten, sich feucht zu schneuzen, derb ins eilfertig gezückte Tuch zu schniefen. Das zu erwähnen mag kleinlich scheinen, aber es kann dem leise Hüstelnden, dem das effektheischende Schnauben Vermeidenden, dem Nichtkrawallniesenden tatsächlich nur übel werden davon. Auch ärgerlich ist dieser Gruppenzwang, irgendeiner fängt an, zwei steigen ein, drei folgen mindestens, weil despektierlich gegenüber den Filmen und ihren Machern. Daß es sich um eine gezielte Marotte handelt, ist offensichtlich, weil dies in derartigem Ausmaß nur beim Wettbewerb im Berlinale-Palast geschieht, die Ach-so-Erkälteten wollen also die ganz große Bühne, es sollten schon mehr als eintausend Kinobesucher an ihrem widerwärtigen Katarrhkonzert teilhaben können. Unglaublich. Und mit Verlaub: Das liegt sicher nicht am Februar und einer eventuell besonders hohen Erkältungsrate. Mir ist kein zeitlich auf die Berlinale folgendes Festival bekannt, das entsprechend der doch weitaus üblicheren Sommergrippen derartiges zu beklagen hätte ... Nun denn, was gab es sonst in Berlin?

Gute Filme, ja, die auch, aber eben nicht in der Überzahl. Man geht ja Jahr für Jahr mit der immergleichen Naivität ans Werk und versteht den Wettbewerb quasi als Star-verziertes Aushängeschild des Festivals, als große Leistungsschau des Weltkinos. Vergiß es! Die Schmankerl sind wie eh und je in den Nebensektionen Panorama und Forum zu finden. Doch um gerecht zu bleiben: STURM, der neue Film von Hans-Christian Schmid und RICKY, François Ozons neuester Geniestreich, liefen beide im Wettbewerb – und überzeugten. Schmid hat mit seiner Geschichte um den Versuch später Gerechtigkeit eines dieser Kinostücke abgeliefert, denen man mit einer Mischung aus Hochkonzentration, Wut und Ohnmacht folgt. Wer hat schon gesagt, daß das Leben gerecht ist? Dies mag eine der Aussagen von STURM sein, nachdem die von einer ­brillanten Kerry Fox gespielte Anklägerin am Kriegsverbrechertribunal in Den Haag trotz belastender Zeugenaussagen den Kriegsverbrecher Duric nicht entsprechend dingfest machen kann. Ein hochspannender Film über noch immer währende Seilschaften, über Angst und Ungerechtigkeit, ganz in der Tradition der Politthriller der 70er.

Und zu Ozon: Er überforderte schlicht viele der kritischen Kollegen mit RICKY, diesem herrlichen Mix aus Sozialdrama und Freakshow. In den grauen Alltag einer kleinen Patchworkfamilie kommt ungewollt Farbe: Dem sich vorerst quälenden und dann so vogelfrei agierenden Säugling Ricky wachsen – genau! – Flügel. Die Reaktion der Mutter darauf ist eine ganz fabelhafte, eine jedem waschechten Muttertier entsprechende. Der Schluß ist einer der träumerischsten, den man einer derart ungewöhnlichen Geschichte antragen kann: Freaks, und das ist beileibe nicht bösartig gemeint, gehören in die Freiheit. Flieg, Ricky, flieg ...

Andere Franzosen wußten hingegen nicht so recht zu begeistern: Claude Chabrols BELLAMY kann zwar durch einen wunderbar zurückgenommenen Gérard Depardieu als pensionierter Kommissar einnehmen, insgesamt ist sein Verwirrspiel um einen vorgetäuschten Mord doch vor allem ziemlich müde. Was man dem knapp 80jährigen Meisterregisseur nachsehen mag. Aber auch Catherine Breillats neuer Film BARBE BLEUE war eher enttäuschend, da ihre Geschichte um das Märchenphänomen „Blaubart“ als pseudo-intellektuelles Pamphlet über zwei verschiedene Zeitebenen eher ermüdet als interessiert. So ist es ein sehr „theoretischer“ Film geworden, der in seiner Pappmaché-Ausstattung allenfalls ein wenig vom frühen DEFA-Charme versprüht. Märchenhaft in gewisser Weise war DIE GRÄFIN von der Französin Julie Delpy. Sie aber erzählt spannend, bildstark und mit pointierten Dialogen eine Geschichte über Abartigkeit. Mit Delpy in der Hauptrolle wird von der ungarischen Gräfin Erzebet Bathory berichtet, die dem jungen Grafensohn Istvan verfällt. Um nicht zu altern, zapft sie erbarmungslos das Blut jungfräulicher Mädchen an. Bald sind die Wälder voll mit ausgesaugten Leichen ... Das an sich grausige Thema wurde von Delpy konzentriert und in den Blutszenen wohldosiert in eine mit satten Cinemascopebildern ausgekleidete Geschichte über eine tragisch verhinderte Liebe gepackt.

Von anderen namhaften Regisseuren konnten die Filme leider nur mäßig überzeugen oder enttäuschten richtig. Letzteres gilt für MAMMOTH, ein Gutmenschenwerk des einstigen Ausnahmeregisseurs Lukas Moodysson. Nach einigen Experimenten fand er zwar zur Spielfilmregie zurück, erzählt seine Geschichte über die mangelnde Chancengleichheit im modernen Kapitalismus allerdings doch etwas zu schablonenhaft und schlichtweg naiv. Da die doch auch nur Gutes wollenden Erfolgsmenschen im modernen New York, dort die sich zwangsprostituierenden Kinder auf den Philippinen und die Huren auf Phuket. Es ist wichtig, derartige Gegensätze immer wieder zu thematisieren, aber doch bitte nicht so kindsköpfig. Als enttäuschend erwies sich auch der mit Spannung erwartete neue Film von Maren Ade, denn an die Qualität von DER WALD VOR LAUTER BÄUMEN konnte die Paaresstudie ALLE ANDEREN beileibe nicht heranreichen. Mann und Frau im Urlaub, auf Sinnsuche, als Flucht vor Entscheidungen, alsbaldige Selbstzerfleischung setzt ein. Die sicher durchweg guten Mimen retten die hölzerne Geschichte aber nicht vor der Belanglosigkeit, wozu auch teils arg gestelzte Dialoge gehören. So sieht sie also aus, diese – pardon – westdeutsche Langeweile, diese Sattheit, die dieses Werk zu einem fast peinlichen Gegenstück zur Filmsprache eines Andreas Dresen macht.

Andere Deutsche hingegen wußten zu überraschen, in diesem Fall ebenso mit dem Zweitfilm fürs Kino. Zum Beispiel Lars Jessen, der sich nach AM TAG, ALS BOBBY EWING STARB steigerte und das vielleicht schönste Coming Of Age der letzten Jahre erzählt, in DORFPUNKS, nach dem Buch von Rocko Schamoni. Wir sind in den 80ern, in einem Kaff namens Schmalenstedt. Malte und seine Jungs träumen von Ausbruch und der geilen Celine, doch bevor sie in die Gänge kommen, verdrücken sie lieber schnell noch ein paar Blechbrötchen. Doch irgendwann in dieser Bierseligkeit kommt ihnen die Idee: Wir gründen eine Band! Allein die Namenssuche ist ein Brüller ... Hier wird mit Liebe zum (Ausstattungs-)Detail von Anfang und Ende erzählt: dem Anfang des Erwachsenseins, dem gar nicht so leisen Abschied von der Jugend. Tolle neue Gesichter, ein wunderbarer nordischer Witz und – wie es eine gute Komödie braucht – eine Prise nötigen Ernstes.

Nicht so gelungen, auch hier der zweite lange Spielfilm eines deutschen Regisseurs, ist ­RÜCKENWIND von Jan Krüger. Das Magische, das Unerklärbare, das Schwebende seines Vorgängers UNTERWEGS kriegt er hier nicht hin, in dieser Geschichte um eine noch frische ­Jungenliebe, die auf einer aus dem Ruder laufenden Wanderung Brüche kriegt. Johann und Robin streiten und lieben sich, alles ziemlich aus der Kalten heraus, unmotiviert, und das Schlimmste daran ist, daß dies auch den Darstellern aus den blassen Gesichtern strahlt: Sie haben einfach kein Geheimnis. Der Film tut aber so, als gäbe es da was und verzettelt sich in merkwürdigen Wendungen und Behauptungen. Einzig das Spiel Denis Alevis, Darsteller des Jungen vom Bauernhof, auf dem die Knaben nächtigen, gelingt es, etwas faszinierend Rätselhaftes in die Geschichte zu bringen.

Der schwul-lesbische Fokus liegt ja seit jeher in den Händen der Panorama-Macher um Wieland Speck, und ihnen ist auch in diesem Jahr ein schöner Überblick über das aktuelle queere Filmschaffen gelungen. Absolut hinreißend war der neue Film der XXY-Regisseurin Lucía Puenzo, die EL NIÑO PEZ wiederum mit der geheimnisvollen Inés Efron besetzte. Sie spielt Lala, ein Teenager-Mädchen aus besserem Hause in Buenos Aires, das ein Verhältnis mit der ein paar Jahre älteren Haushaltshilfe hat. Beide planen irgendwann abzuhauen, nach Paraguay, um an den Ufern des magischen Sees Ypoá zu leben. Doch Lala ist die Umsetzung des Traumes ernster, während Ailin mit dunklen Geheimnissen zu kämpfen hat – aus ihrer Kindheit und in der Gegenwart ... Vielschichtig erzählt Puenzo von adoleszenter Verzweiflung, von latentem Rassismus in der lateinamerikanischen Wohlstandsgesellschaft, und sie entflicht eine berührende Geschichte wilder Leidenschaft, die in eine Katastrophe mündet. Mit den beiden jungen Darstellerinnen hat sie dabei einen echten Trumpf in der Hand. Einmal sagt Ailin zu Lala: „Du bist die süßeste Maus auf der Welt!“ So einen Satz muß man erst einmal glaubwürdig hinkriegen. Das gelingt hier und noch viel mehr.

Sehr berührend war auch die verfilmte Lebensgeschichte des jungen Pedro Zamora, der sich im Alter von 17 Jahren mit HIV infizierte, seine Erkrankung in der Reality-Show „The Real World“ auf MTV öffentlich machte und so zum glaubwürdigen AIDS-Aktivisten wurde. Nick Oceano versteht es, die auf den ersten Blick an sich zu knappe Geschichte eines derart jungen Lebens interessant zu erzählen, da er Pedros kubanische Wurzeln verfolgt, die schmerzhafte Ausreise der auseinandergerissenen Familie nach Miami thematisiert, den Jungen am Tod seiner geliebten Mama leiden zeigt, und man die sympathische Figur einfach ins Herz schließen muß: Woher nur nimmt der Junge diesen Lebensmut, fragt man sich, und weiß um die Ungerechtigkeit des Lebens, als Pedro mit 22 Jahren stirbt.

Interessant war auch der chinesische Beitrag END OF LOVE, selbst wenn man zu Beginn noch denkt, daß man von diesen anämischen, digitalen, so unfertigen Bildern eigentlich nichts mehr sehen möchte. Doch die Geschichte reißt es dann raus. Sie erzählt vom jungen Ming, der sich nach dem Selbstmord seiner Mama immer weiter von seinem klammernden Liebhaber Yan entfernt, auf den Strich geht, in die Drogenszene abrutscht, zusammenbricht und nach dem Entzug in einer christlichen Anstalt versucht, ein neues Leben zu beginnen. Doch draußen in der realen Welt wird er schnell sehen, daß die Traurigkeit in vielen Stuben wohnt, daß Glück selten von Bestand ist, und schließlich gar das Schlimmste passiert: Die Liebe stirbt. Ein trauriger, nur manchmal vorhersehbarer Film.

Rundum gelungen und der vielleicht stärkste Film des Festivals war SOUNDLESS WIND CHIME, der im Forum lief. Auch hier wird das Thema Tod behandelt, auf ganz außergewöhnliche Weise. Der Chinese Ricky trauert um seinen Freund Pascal, ein Schweizer, den er in Hongkong kennenlernte. Ein Tagedieb, ein Straßenkünstler, der in der Bekanntschaft zu Ricky erstmals Halt findet. Eines Tages stirbt Pascal bei einem Verkehrsunfall. Später wird sich Ricky aufmachen, um zu verstehen. Er fährt in die Heimat des Geliebten, in die Schweiz.

In sehr aufwühlenden Rückblenden voller Zärtlichkeit – etwa wenn sich Ricky bei der Rasur erinnert, wie er einst seinem Freund den Kopf schor, ihm für ein Bewerbungsgespräch das Hemd bügelte – wird die Geschichte einer, da Pascal nicht der Stabilste war, teils ungleichen Liebe erzählt, eine schöne Ballade über die Fragilität des Glücks. Für Ricky ist es die Liebe des Lebens gewesen, und fast beneidet man ihn um diese sehr asiatische Fähigkeit zu trauern. Man sieht es ihm an, daß er zwar leidet, aber durchaus in der Lage ist, weiterzuschauen und seinen Geliebten an einen mit Sicherheit nicht schlechteren Platz als in der Irdischkeit zu wissen. Der noch junge Regisseur Kit Hung hat einen sehr reifen Film über einen starken Mann gedreht. Die grobkörnigen Bilder, die wunderbar die Kontraste zwischen den beschaulichen Bergen um Luzern und der hektischen Metropole Hongkong unterstreichen, erinnern gar in manchem Moment an die früheren, an die besseren Filme Wong Kar-wais.

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.