Film: ICH FÜHL MICH DISCO

Von dicken Jungs, schwierigen Vätern und beherzten Damen im Ring

Ein Rückblick auf das 31. Filmfest München

[ 25.07.2013 ] Filmfesteröffnung: „Ich bin nicht nervös, ich bin aufgeregt!“ Dazu hatte sie allen Grund, die seit letztem Jahr tätige Filmfestchefin Diana Iljine, denn ihr und ihrem Team gelang eine der besten, spannendsten, vielfältigsten, ja, eben auf- und anregendsten Editionen der letzten Jahre.

Und dies, was so nicht zu erwarten war, lag vor allem am deutschen Kino, das mit kernigen, witzigen, anrührenden und intelligenten Geschichten überzeugte. Manchmal sogar alles in einem, zum Beispiel in Axel Ranischs hinreißendem DICKE MÄDCHEN-Nachfolgefilm ICH FÜHL MICH DISCO. Erzählt wird die Geschichte des dicklichen Teens Florian, der noch am allerliebsten mit Mama zu deftig-frivolen Schlagern durch die Bude hüpft. Mit Papa hingegen fremdelt er ein wenig. Das muß sich ändern, denn plötzlich sind die beiden allein, Mama liegt im Koma, die Männer sind überfordert, und dann kracht auch noch der Schwimmsportler Radu durch das zarte Herz des Jungen ... Ranisch verrührt Skurriles mit Anrührendem, orchestriert die erste Liebe mit zotigen Mitklatschsongs und würzt seine ungewöhnliche Geschichte, die überdies von ganz wunderbaren Schauspielern getragen wird, mit gehörigem Schwung aus Trash und Tränen.

Richtig gute Schauspieler und noch ein ungleiches Vater-Sohn-Gespann gab es auch im Eröffnungsfilm EXIT MARRAKECH von Caroline Link. Ulrich Tukur und Samuel Schneider (der Holger aus BOXHAGENER PLATZ) haben sich ewig nicht gesehen und sollen nun urplötzlich, mitten in Marokko, wo der Vater am Theater arbeitet, miteinander klarkommen. Kann nicht so einfach gutgehen, wird es auch nicht, und was sich nun entflicht, ist ein faszinierendes Gleiten in eine erste Liebe, ein Aufbrechen verwandtschaftlicher Erosionen in der Fremde und eine ganz stark bebilderte Erwachensgeschichte.

Investigatives Hochspannungskino, fast so, wie wir es von George Clooney kennen, lieferte Daniel Harrich mit seiner Aufdeckungsgeschichte DER BLINDE FLECK, in dem er Benno Fürmann (mit einer seiner reifsten Leistungen) als Journalist Ulrich Chaussy das Oktoberfest-Attentat von 1980 neu aufrollen läßt. Damals kamen 13 Menschen ums Leben, mehr als 200 wurden verletzt und die Ermittlungen bewußt verschlampt. Harrich erzählt nüchtern, stringent und mit einer sogartigen Spannung, wie sie es im deutschen Kino selten gibt.

Einem Ermittler der ganz anderen Art konnte man in München (wieder-)begegnen: Schneider, Helge Schneider, der als 00SCHNEIDER – IM WENDEKREIS DER EIDECHSE nicht mehr macht, als einmal mehr seinen Sonderstatus als Guru des Meta-Nonsens zu unterstreichen. Herrlich, altklug, saublöd, clever, brüllkomisch. Muß man sehen!

Nun haben die Deutschen dieses entspannte Filmfest ja nicht allein gewuppt, großen Anteil am Gelingen hatten – wie eigentlich immer – die Franzosen, und wenn auch ein wenig gebetsmühlenartig der Frauenfaktor des Filmfests heruntergeleiert wurde (gedacht als selbstbewußtes Schulterklopfen gegen das Festival Cannes, das fest in Männerhand ist), muß man einfach sagen: Ja, es waren die Frauen, die einem mit ihren Filmen vor und hinter der Kamera die Sinne raubten.

Eine ganze Bande gleich in LES REINES DU RING, eine Komödie, die spielend mit Witz und Wucht des Männerpendants aus GANZ ODER GAR NICHT mithalten kann. Hier sind es keine arbeitslosen Stahlarbeiter, dafür schlecht bezahlte und von den skurrilen Verkaufsmethoden ihrer Chefin durchaus enervierte Supermarktkassiererinnen, die nun den Ausbruch wagen. Aufhänger ist die verzweifelte Suche nach Liebe und Anerkennung von Rose, die lange im Knast war und nun um ihren Jungen kämpft. Der allerdings liebt Wrestling, da kommt den Mädels eine Idee ... Albern, deftig und außerdem zu Tränen rührend – das muß man erst einmal schaffen in einem Film. Und dann noch die hinreißende Nathalie Baye als Wrestlingprinzessin, die sprichwörtlich in den Seilen hängt ...

Ein ganz anderes Kaliber ist der Film LES BEAUX JOURS von Marion Vernoux, der von Caroline erzählt, die im Ruhestand ist, nach Sinn und Beschäftigung sucht und auf den wesentlich jüngeren Julien trifft. Der Film ist komisch, durchaus, er zeigt die Abriebe eines Lebens, einer Ehe, und er piekst in das Nest, in dem die Affären-, Sehnsuchts- und Probierwutwespen wohnen und ist dabei vor allem eins und das zu Recht: ein Kniefall vor der großen, stolzen und unvergleichlich altersschönen Fanny Ardant.

Und ein dritter noch und dabei ganz ehrlich – mir haben die beiden gefehlt: Agnès Jaoui und Jean-Pierre Bacri. Sie sind – zumindest filmisch – in UNTER DEM REGENBOGEN wiedervereint, und dies wie gewohnt: als ungleiches Paar. Sie die Künstlerin, er der Fahrschullehrer, da die leichte Weltentrücktheit, dort die Bärbeißigkeit in Reinnatur. Herrlich! Diesmal mischten die beiden Autoren und Hauptdarsteller ihrer Geschichte von der Unmöglichkeit einer glatten Liebe märchenhafte Elemente unter, verschafften dem Superchansonier Benjamin Biolay einen nachhaltig fiesen Gastauftritt, und ihnen gelang einmal mehr eine Komödie par excellence und ein Fest der pointierten Dialoge außerdem.

Generell bot das internationale Programm einen wunderbaren Einblick in die Vielfalt, Spielfreude und Kraft des modernen Kinos, was Form, Geschichten und Haltungen anbelangt. Aus Spanien gefiel dabei besonders der schwarzweiß gefaßte Stummfilm BLANCANIEVES, bei dem durch die Konsequenz in der Umsetzung Erinnerungen an den fabelhaften THE ARTIST wach wurden. Pablo Berger verrührt die Schneewittchengeschichte zu einem großen Torrero-/Torrera-Drama, mischt Zirkuselemente unter, reichert an mit dezentem SM-Touch, und nicht zuletzt taugt sein kurzweiliger Film durch die wunderbaren Kostüme zum Jubelschrei der Mode. Und Maribel Verdú als echtes Aas und Angelina Molina als Gegenpart sind eine Wucht!

Eine atmosphärisch dichte und in mindestens zwei Momenten kaum auszuhaltende Geschichte erzählte der mexikanische Beitrag HELI, in dem der wohl nicht zu gewinnende Drogenkrieg den Hintergrund für ein Familiendrama der heftigsten Art bildet. Helis Schwester ist erst 12, verliebt in den jungen Polizisten Beto, der in ihrem Haus ein bißchen von dem Kokain bunkert, das er mit seinem Trupp an sich verbrennen sollte. Kurz darauf wird das einfache Haus gestürmt, Menschen sterben, Beto wird gefoltert, ihm werden die Genitalien verbrannt, dann hängt man den Jungen zur Abschreckung anderer von einer Brücke ... Ein Schlag in die Magengrube, ein wahrlich aufwühlender, kraftvoller Film, der davon erzählt, wie ein Land unaufhaltsam moralisch, menschlich und politisch vor die Hunde gegangen ist, und der trotzdem gewissermaßen voll verzweifelter Hoffnung auch noch vom (Über-)Lebenshunger zweier Geschwister erzählt.

Ein Film, der ebenso unter die Haut ging, wenn auch ganz anders, war das Familiendrama LIKE FATHER, LIKE SON. Und wenn man noch ergänzt, daß dies das neueste Werk von Hirokazu Kore-Eda ist, also von dem Regisseur, der den unvergeßlichen Film NOBODY KNOWS vor knapp zehn Jahren schuf, dann ist sicher zu verstehen, wenn niemand ohne Tränen den Saal verließ. Wie auch, wenn von zwei Familien erzählt wird, die plötzlich einen Anruf von der Klinik, in der ihre Söhne vor sechs Jahren geboren wurden, erhalten, womit man sie informieren wolle, daß damals die Kinder versehentlich vertauscht wurden? Nun entfaltet sich ein ruhig, dafür umso bedrohlicher erzähltes Drama vom grauenvollen Versuch des Loslassens, des Neufindens, was eigentlich nur diplomatisch ausgedrückt für ein furchtbares Verstoßen steht. Das setzt einem als Zuschauer arg zu, das Dranbleiben lohnt sich aber, weil der japanische Ausnahmeregisseur ans Kino, ans Publikum und ans Leben glaubt.

Und nach solchen Filmen, nach einer solchen gelungen Festwoche darf sich jeder ernstzunehmende Kinofreund, der oft in Sorge ist um die schönste alle Künste, durchaus zurücklehnen – naturgemäß aufgeregt, aber ohne Grund zur Nervosität.

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.