Bild: DIE TÄNZERIN

Verliebte Jungs, kämpferische Väter und fatale Parallelwelten

Ein Rückblick auf das 34. Filmfest München

[ 29.07.2016 ] Die Ansage von Diana Iljic war klar: „Wann sind Sie zum letzten Mal ins Kino gegangen?“ Es ist Iljics Herzensanliegen, gegen die Schließung anspruchsvoller Programmkinos zu kämpfen, die Leute von der Couch und ihren ewigen Serien wegzulocken, die große Leinwand als Sehnsuchtsort und Projektionsfläche fürs Gemeinschaftserlebnis zu propagieren. Dafür fuhr sie in diesem Jahr mit dem von ihr geleiteten Filmfest München Vollgas, brachte über 200 Filme aus 60 Ländern auf die Leinwände und lud zahlreiche Filmemacher ein, die eben nicht an Wohnungstüren klingeln, die einzig und allein am schönsten aller schönen Orte mit den Zuschauern ins Gespräch kommen wollen: im Kino! Und 2016 war, wenn auch kein überragender, ein mindestens anständiger Jahrgang, man mußte halt genau hinschauen, dann aber galt es doch einiges zu entdecken. Aber auch das darf Kino einfordern: Partizipation und Empathie statt einlullender Folgsamkeit.

„Verstörung und Ausnahmezustand“ hätte über einer Vielzahl von Filmen stehen können, auch über dem durchaus feministischen Survival-Psycho-Thriller INTO THE FOREST. Ellen Page und Evan Rachel Wood müssen in einem vorerst stylishen, schließlich den Gegebenheiten zu opfernden Waldhaus monatelang überdauern – ohne Energie, bald ohne den schützenden Vater, dafür gegen die Macht der Natur und die Primitivität des Mannes. Die Welt am Abgrund als Motiv für eine fast schon sinnliche Apokalypse, die in bestechenden Bildern aufzeigt, was einem im Leben alles so passieren kann. Patricia Rozema vermag ungeschönt von brachialer Gewalt und dennoch mit einer fast romantischen Melancholie von einer Katastrophe zu erzählen. Dazu paßt Cat Powers „Wild Is The Wind“ perfekt, hoffen wir nun auf einen Start in den deutschen Kinos.

Gleiches wäre dem ganz anders geratenen, aber ebenso von Zusammenhalt, Verlust und Schuld erzählenden Film MAMMAL zu wünschen. Rachel Griffiths spielt eine verschlossene Frau um die 40, die versucht, sich freizuschwimmen. Metaphorisch, weil sie einst ihren Sohn verstieß, der nun tot aufgefunden wurde, und wörtlich, wenn sie ihre täglichen Bahnen im städtischen Schwimmbad zieht, wo sie auch Joe wiedertrifft, einen obdachlosen Teenager, den sie jüngst blutüberströmt vor ihrer Haustür fand, ihn versorgte, bis er plötzlich verschwand. Jetzt bleibt er länger, sie kiffen zusammen, erstmals lacht Margaret wieder, sie schlafen miteinander, sie ziehen sich an und treiben einander fort. Weil sie sich zu ähnlich sind, beide Meister im Verdrängen. Das ist astreines Kino mit vielen unberechenbaren Raubtiermomenten, was in den präzise gezeichneten Charakteren liegt. Unglaublich, wie Griffiths es vermag, diese endlose Traurigkeit, die Wut und den Frust zu spielen, zwischen mädchenhaft und purer Verbitterung. Aber auch Barry Keoghan überzeugt, der erst 19jährige Mime erinnert in seiner Explosionsgefahr gar an Antoine-Olivier Pilon aus MOMMY. Mit Filmen wie diesem werden Iljics Ansprüche Wahrheit – sie gehören ins Kino! Traurigerweise letztlich wohl nur noch im Rahmen von Festivals.

Einen starken, vielfältigen Auftritt hatte mal wieder das französische Kino, zwischen fesselnd und brisant, verträumt und kämpferisch. In Erinnerung bleibt in jedem Fall Daniel Auteuils Ausnahmeperformance in IM NAMEN MEINER TOCHTER. Er spielt André Bamberski, dessen Ex-Frau mittlerweile mit dem deutschen Arzt Krombach zusammenlebt, die gemeinsamen Kinder besuchen ihre Mutter in den Ferien in Deutschland. Dort kommt die Tochter Kalinka ums Leben – unter merkwürdigen Umständen.

Auteuils Spiel zerreißt einem das Herz, wie er gebeugt vor Schmerz und Wut und schließlich bis zur Besessenheit den Tod seiner Tochter aufklären will, wie er seinen Bamberski an der französischen und deutschen Justiz verzweifeln läßt und schließlich zu unorthodoxen Methoden wie Entführung greift. Der Fall hat sich tatsächlich zugetragen, aber auch ohne diesen Hintergrund ist Vincent Garenq ein hochspannender, beklemmender und zutiefst anrührender Thriller gelungen, in dem Auteuil auch schon mal den Bronson gibt, aber eben einen, der berührt.

MADE IN FRANCE erzählt eigentlich auch von wahren Begebenheiten, irgendwie, und gerade deswegen hielt man ihn so lange wie möglich unter „Verschluß“, will sagen: Vor dem Hintergrund der Terroranschläge in Paris traute man sich nicht, einen Film im Kino zu zeigen, der vom Entstehen einer Terrorzelle erzählt. Man mogelte ihn dann als reine DVD-Veröffentlichung unters Volk, was falsch war, denn gerade jetzt und am besten viel früher noch hätte man doch zeigen müssen, was ist! Man hätte filmisch unterstreichen können, welche letztlich untergeordnete Rolle die Religion spielt, wenn sich Gewalt und Verklärung wie verselbständigen. Der Journalist Sam will, als es zu brenzlig wird, seine Recherchetätigkeiten innerhalb eines islamistischen Zirkels beenden, geht zur Polizei, doch für die wird der junge Mann jetzt erst richtig interessant: als Maulwurf. Nicolas Boukhriefs ist ein sich beängstigend echt anfühlender Film gelungen, der von nichts Geringerem erzählt, als daß bereits Krieg herrscht.

Von Parallelwelten erzählte auch DIVINES, der tief in den Kosmos der an den Rand Gedrängten eintaucht, der das Mädchen Dounia porträtiert, die mit unzähligen anderen jungen Menschen der Banlieue klare Lebensziele verfolgt: Geld und Macht. Da scheint die knallharte Dealerin Rebecca der Schlüssel zum Glück. Und Dounia macht alles richtig, bis sie sich in den rätselhaften Tänzer Djigui verliebt, bis der Rausch des Geldes richtig blöde macht und sie in Ungnade bei Rebecca fällt. Das ist kraftvolles Kino voller Hochenergie und mit stillen Momenten, mit extremen Aggressionsausbrüchen und urkomischem Witz und trotz des überinszenierten Schlusses eine absolute Empfehlung für einen Start im Kino!

Das Glück wird dem nächsten Film auf jeden Fall zuteil: DIE TÄNZERIN startet bei uns im Herbst und verweist vor allem auf einen kommenden Star. Die junge Soko spielt die hoffnungsvolle Tänzerin Loïe Fuller mit einer Kraft und Zerbrechlichkeit zugleich, mit einer Anmut und Rätselhaftigkeit, wie man sie im Kino lange nicht gesehen hat. Der Charme des Films liegt auch darin, daß er kein klassisch runtergespultes Biopic ist, die Kantigkeit tut im aktuellen Wohlfühlprogramm gut. Daß der Film durchaus Rhythmusprobleme hat, manchmal wie zusammengeschnitten wirkt, verzeiht man glatt wegen der (leider fast zu wenigen) betörenden Tanzszenen und eben der Aura dieser jungen Soko.

Im internationalen Programm bestach der kolumbianische Beitrag LA CIÉNAGA. Im Mittelpunkt steht die unverbrüchliche Beziehung zwischen Alberto und seiner Mutter. Rosa spürt zunehmend die Hürden des Alters, und Alberto, der seit der Kindheit an einer unheilbaren Nerven-Muskel-Krankheit leidet und ans Bett gefesselt ist, hat den sehnlichen Wunsch, noch einmal ans Meer zu kommen. In naher Ferne, so weit, möchte man seufzen, leben die beiden zwar in der Karibik, aber eben nicht auf der weißen Traumstrandseite, sondern nur wenige hundert Meter entfernt auf dem eher sumpfigen Gegenüber. Es ist beeindruckend, wie Rosa versucht, ihrem Sohn ein halbwegs würdevolles Leben zu bereiten, wie sie ihn schützt, es rührt an, wie sich beide dann doch auf den Weg zum Palmenstrand machen, eine Reise mit einem klaren Ziel. Zumindest für Alberto ... Carlos del Castillo erzählt von einem einfachen Fischerleben, von ungewöhnlicher Kommunikation und von einer fast schon gespenstisch großen Liebe. Und wenn Alberto mal wieder „Mama“ ruft, dann laufen auch dem Hartgesottensten die Tränen ...

Glückstränen hätte man in diesem Jahr ob der deutschen Kinobeiträge beim Filmfest vergießen können, ganz ehrlich: Gleich vier Filme wußten zu begeistern, jeder für sich und ganz anders, eine Viefalt, die es bei uns im heimischen Film eher selten zu bestaunen gibt. Dani Levy, der Zampano der chaotischen Familienkomödie, gibt uns einmal mehr mit DIE WELT DER WUNDERLICHS Einblick in das Tohuwabohu, das Familie nun einmal bedeutet. Mimi ist eine Alleinkämpferin, der Ex-Mann ein saufender, abgehalfterter Rockstar, das gemeinsame Kind Felix eine anstrengende, hyperaktive Blage, und als Mimi ob des Kindes mal wieder in die Schule zitiert wird, sagt sie einen der typischen Levy-Sätze: „Vielleicht könnte man ihn einfach öfter schlagen? Wie in den guten alten Zeiten!“ Herrlich wüst, zutiefst menschlich und mit einer schrägen Schnoddrigkeit gibt Levy dem deutschen Film das zurück, was ihm so schmerzlich fehlt: Leichtigkeit.

Ein tafferes Geschütz war da Sven Taddickens GLEISSENDES GLÜCK, ein im Verlauf immer mehr überraschender, unberechenbarer Film, der zum einen Martina Gedeck und Ulrich Tukur als ungewöhnliches Liebespaar zeigt, zum anderen sich traut, Erzählkonventionen zu brechen, dem es glückt, brachialer Gewalt herrlich pointierte, durchaus abgründig witzige Dialoge an die Seite zu stellen, und da man vor dem Start im Herbst nicht zu viel verraten will: Taddicken ist absolut mutiges Kino gelungen, das sich wagt, Romantik von durchaus morbider Seite zu zeigen.

Deutscher Dokumentarfilm fürs Kino? Da winken die meisten ab, was gerade einem Film wie DAS VERSPRECHEN gegenüber ungerecht und ohnehin falsch wäre. Die beiden Filmemacher Marcus Vetter und Karin Steinberger verknüpfen erschütterndes Archivmaterial mit heutigen Aufnahmen, um vielleicht einem wirklich extremen Justizirrtum, oder besser, einer großen Sauerei auf die Spur zu kommen. Seit knapp 30 Jahren sitzt Jens Söring in den USA im Gefängnis, beschuldigt des Mordes an den Eltern seiner damaligen Freundin. In hochspannenden und fast noch zu knapp bemessenen 130 Minuten werden der Fall aufgerollt, Ungereimtheiten ans Licht gebracht, Vertuschungen beleuchtet, und obwohl Söring kein Sympathieträger ist, gelingt es den Filmemachern, daß man an die Unschuld des damals gerade mal 20jährigen glaubt, und man gehörig am Justizsystem Virginias zweifeln und von behördlichen Bemühungen auf deutscher Seite schwer enttäuscht sein darf.

Und zum Schluß noch eine Empfehlung des vielleicht hinreißendsten Beitrags vom Filmfests: DIE MITTE DER WELT von Jakob M. Erwa, der seine Hauptfigur, den 17jährigen Phil, sich selbst ankündigen läßt: „Standard, normales Landei, bißchen schwuler als Standard vielleicht ...“ Und da sind wir auch schon bei Louis Hofmann, vielleicht der Nachwuchsschauspieler der Stunde! Bestechend, welche unglaubliche Präsenz der Mime auf der Leinwand hat, wie er im Spiel sich aus einer gewissen Unscheinbarkeit herausschält, herzpochend, wie der einem die ganze Zerrissenheit der Jugend, dieses Blöde am Verliebtsein und das Herrliche am Schweben aufzeigt. Toll, wie es Hofmann gelingt, dieses Stottern, dieses Zwinkern, dieses Wollende und das Unsichere glaubwürdig darzustellen, als es um seinen Phil geschieht, weil mit Nicholas so eine Silberblickschönheit in die Klasse kommt, bei der fast automatisch alle Ratio flötengeht.

DIE MITTE DER WELT erzählt gottlob kein x-tes Coming Out, Phil wächst in einer chaotischen, eigenwilligen, aber doch sehr offenen Familie auf, der Film konzentriert sich vielmehr mit den intendierten Stilmitteln des Naiven auf das, was es bedeutet, sich wie irre zu verlieben und dann mit Enttäuschungen klarzukommen, gar an ihnen zu wachsen.

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.