Originaltitel: AMERICAN HONEY

GB 2016, 164 min
FSK 12
Verleih: Universal

Genre: Roadmovie, Drama, Erwachsenwerden

Darsteller: Sasha Lane, Shia LaBeouf, Riley Keough, Arielle Holmes, Isaiah Stone

Stab:
Regie: Andrea Arnold
Drehbuch: Andrea Arnold

Kinostart: 13.10.16

1 Bewertung

American Honey

Eigenen Platz gesucht und Kino mutig auf den Kopf gestellt

Man mag kaum annehmen, daß Star sich das Dasein so erträumt haben könnte: Irgendwo im Hinterland Amerikas kümmert sich die 18jährige um ihre Geschwister, weil die prollige Mutter den wenigen sich bietenden Vergnügungen nachgeht, sogar den rüden Freund vernachlässigt. Dieser tanzt gern mit Star, Zigarette in der einen, Bierbüchse in der anderen Hand. Wo beides herkommt, gibt’s immer noch viel mehr. Star weint; das private Elend hat ein sehr hübsches Gesicht.

Plötzlich blinkt ein Lichtstrahl in der Öde: Junge Leute wollen Magazin-Abos verhökern. Drückerkolonne, logisch, aber alles scheint besser als Versauern am Arsch der Welt. Star liefert die Kinder ab, schließt sich dem Trupp an, lernt Chefin Krystal kennen, eiskalte Chefin, unsympathisches Biest, Freundin von Jake. Letzterer ein Heißsporn, extrovertiert, stets unter Volldampf, begnadeter (Über-)Redner, zukünftig Stars Schwarm. Zickenterror schwängert die sowieso schon glutheiße Luft.

Wenn Ihnen vorliegende Rezension bis hierhin sperrig und wenig fließend vorkam, dann liegt das an der gedanklichen Nähe zum zugehörigen Film. Was nämlich Andrea Arnold nach FISH TANK und ihrer modernisierten „Wuthering Heights“-Adaption auf die Beine stellt, verweigert so konsequent jede gängige erzählerische Struktur, daß es fast vermessen wäre, einen straffen roten Faden nur suchen zu wollen. Arnold schaut sich einfach um, entdeckt alterstechnisch eigentlich frische, de facto indes verkniffene, früh versteinerte, desillusionierte Gesichter. Sie fängt konträr dazu laute Lebenslust ein, welche an Hysterie grenzt, beobachtet Durchschnittstypen beim Fliehen vor sich selbst, findet ruhige Momente des temporären Zusammenhalts, wenn das Grüppchen gemeinschaftlich singt. Um später erneut auf die Piste zu gehen, Lügen zu faseln, weichherzige Frauen zu umgarnen, abzuzocken.

Mittendrin taumelt Star großen Auges herum, manchmal trunken durch Alkohol, teils berauscht von bisher unbekannter Freiheit. Das Mädel glaubt, endlich den richtigen Platz gefunden zu haben, praktisch gehört sie allerdings wieder nicht oder nur am Rand dazu, außerdem wachsen die Gewissensbisse angesichts fragwürdiger Verkaufsmethoden. Arnold nimmt sich für die Analyse jenes Schwebezustands alle Zeit, ganz genau 164 Minuten nämlich, wer das Sitzfleisch zu Hause vergaß, dürfte deswegen Probleme kriegen. Mehr als zweieinhalb Stunden flimmern lose aufgefädelte Szenen daher, und Arnold macht sich einen Heidenspaß daraus, nicht bloß inszenatorisch, sondern gleichermaßen technisch das herkömmliche Kinoerlebnis zu torpedieren: Statt üblichem Widescreen verblüfft Normalbild im 1.37:1-Format, dazu gesellt sich rauhe Handkamera-Optik. Mutig entschieden, höchstmögliche Authentizität gewonnen. Kino ist für Arnold hier kein Ort der Träume, kann es mit solchen Protagonisten nicht sein. Realitätsneigung ebenfalls auf der Tonspur, vollgestopft mit Songs, aber ohne instrumentale Stücke – in der Wirklichkeit schallen nun mal Lieder aus sämtlichen Ecken, doch keine Melodien vom Himmel.

Obwohl ihr Film unablässig wie ein bald ausbrechender Vulkan rumort, gelingen Arnold auch Momente großer Intimität, was einerseits Zwischenmenschlichkeit meint und andererseits auf schöne Einzelheiten abzielt, darunter der liebevolle Umgang unserer von Newcomerin Sasha Lane superb gemimten Protagonistin mit Insekten. Und am Ende ist Star nach langer Suche halbwegs angekommen. Vielleicht.

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...