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Colonia Dignidad

Adrenalinkino wider das Vergessen

Im Weggucken sind wir Weltmeister. Trotz handfester Erfahrensberichte von Geflohenen, und obwohl sich Vermutungen bereits in den 60ern verdichteten, wurde auch und besonders von Deutschland mal wieder weggeschaut, sich feige weggeduckt vor Folter, Terror, Entführung, sexuellem Mißbrauch, faschistoiden Zulieferdiensten und perfider „Forschungseuthanasie.“ Genau all das passierte in der zynisch betitelten „Kolonie der Würde“, gar nicht so weit weg von Santiago de Chile. Und offiziöse Gesandte wie deutsche Botschafter oder gar Franz Josef Strauß gaben der ansonsten abgekapselten, hinter Mauern und von Bluthunden und Stacheldraht bestens gesicherten Sekte mit Visiten und kaltblütigem Stillschweigen ihre Empfehlung und sicherten dem größenwahnsinnigen Schänder Paul Schäfer bis in die 90er (!)) hinein freies Geleit.

Entsetzt über derartige Begebenheiten ist sicher auch Florian Gallenberger gewesen, und er hat nun einen Film darüber gedreht, der gottlob alles andere als entsetzt ist. Er fiktionalisiert und personalisiert Aspekte wahren Geschehens zu einer herzpochenden Melange aus Liebesfilm, Politthriller und Alptraumgeschichte. Mitreißend taucht er ein in eine Zeit, in der vieles möglich schien, mancher den Traum von einer besseren, wahrhaft sozialistischen Gesellschaft träumte, und zeigt mit dem Fotografen Daniel und der Stewardeß Lena ein Paar, das symbolisch für die Hoffnung steht – Camus belesen, liebestrunken, kämpferisch. Doch dann wird Allende gestürzt, Pinochets Militär übernimmt, dem Kampfeslied „Venceremos“ gehen die Töne aus, nicht mal der Untergrund kann für Sicherheit sorgen. Daniel, der zuvor entlarvende Fotos schoß, wird von Freunden verraten, verschleppt, fast zum Krüppel gefoltert. Dank ihrer Hartnäckigkeit und getrieben von einer tiefen Liebe erfährt Lena von der Existenz der „Colonia Dignidad“ und begibt sich trotz zahlreicher Warnungen auf den Weg in diese Hölle.

Gallenberger gelingt es, eine derart wuchtige Geschichte über unmenschliche Perversion auf ein konzentriertes, in jedem Moment hochspannendes Drama zu verdichten, er schaltet dabei klugerweise nicht in den Schongang, denn auch wenn es weh tut, in den brutalen Alltag, in die Abartigkeit des Schäferschen Imperiums zu schauen, ist diese Herausforderung des Publikums eine allzu legitime. Dabei erzählt Gallenberger nicht alles aus, beim Zuschauer entstehen durch manch’ Grobskizzierung eigene, nachhaltig bedrückende Bilder, etwa wenn Schäfer kleine Jungs zum Duschen schickt.

COLONIA DIGNIDAD kann nur ein Auszug sein, aber eben derart überzeugend exemplarisch, daß es ein Frevel wäre, hätte Gallenberger aufgehübscht und gemildert. Es stimmt nachdenklich, wenn man ob des Films darüber reflektiert, wie man doch bitte bei solcher menschlicher Verkommenheit hinter der Fratze des Frömmigkeit, die sich heute zu wiederholen scheint, überhaupt noch hoffen soll. Es ist ein Film wider das Vergessen, dem es gelingt, mit einem in anfänglicher Ambivalenz und schießlich purem Diabolismus beängstigend aufspielenden Michael Nyqvist das auch Verführerische, das sich zunehmend enthüllende Barbarische und Zerstörerische eines Despoten zu zeigen, dem es um die Befriedigung primitivster Triebe und ums Brechen Schwächerer geht.

So taugt COLONIA DIGNIDAD sicherlich auch zum Psychogramm, aber das wirklich Stärkste ist, daß Gallenberger der Film zu einem Stück Adrenalinkino mit Genreversätzen geriet, das einen wütend werden läßt, das Haltungen vertritt und nicht erst in der fulminanten Schlußszene für klatschnasse Hände sorgt.

D/F/Luxemburg 2015, 110 min
FSK 16
Verleih: Majestic

Genre: Drama

Darsteller: Daniel Brühl, Emma Watson, Michael Nyqvist, August Zirner

Regie: Florian Gallenberger

Kinostart: 18.02.16

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.