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Das große Heft

Die Selbsterziehung von Hundesöhnen

Ist sie ein deutsches Leiden, diese Zweiterweltkriegsfilmmüdigkeit? Ein „Morbus germanicus“ wie der niedrige Blutdruck? Macht man sich verdächtig, wenn einem die Frontgewitter einheimischer Fernsehproduktionen trotz gebrüllter Differenziertheitsbeteuerungen zu kleinlaut erscheinen, ethisch wie künstlerisch? Es sind Filme wie dieser, die einen wieder wachmachen. Nicht wegen ihrer Lautstärke, sondern – ganz im Gegenteil – wegen einer poetischen Stille, in der die Grausamkeit des Krieges ohrenbetäubend wird.

Diese besondere Stille ist einem Roman abgelauscht, mit dem sich die Exilungarin Ágota Kristóf Mitte der 80er Jahre unvermittelt in die Weltliteratur einschrieb – eine beinahe trotzige Hauptsatzprosa, die sich jeden Schnörkel versagt. János Szász, in Theater und Film gleichermaßen beheimateter Regisseur, hat sich nun des bescheiden schmalen Bandes angenommen – voller Demut vor seiner Kraft und seiner in all der sprachlichen Kargheit prächtig gedeihenden Metaphorik. Ohne den kühl-protokollhaften Ton der Vorlage zu beschädigen, findet er eigene Worte und Bilder für Kristófs düsteres Kunstmärchen über zwei namenlose Brüder, die sich dem Krieg und der Verrohung entgegenstemmen, und zwar mit aller Brutalität.

Im letzten Kriegsjahr wird das wohlerzogene Zwillingspaar vor den Bombenhageln der großen Stadt auf dem ungarischen Land in Sicherheit gebracht. „Hundesöhne“ nennt sie die fremde Großmutter, die in ihrem verdreckten Haus thront wie die Schneekönigin in ihrem Eispalast. Nur Schläge und Beschimpfungen gibt es hier umsonst. Für Essen und Unterkunft muß mit Arbeit bezahlt werden. „Du holst Wasser. Du holst Holz.“ Wie Zauberformeln teilen sich die Jungen ihre Verrichtungen zu, fügen sich stumm in die allgegenwärtige Lieblosigkeit und erfinden schließlich eine Strategie, mit der sie Hunger, Gier und Grausamkeit überleben können: die Abhärtung von Körper und Seele durch Schläge und Verzicht.

Szász erzählt diese Geschichte einer gezielten Selbstverwilderung in einem formal virtuos gebändigten Realismus, der auch Luft für poetische, bedrohlich-skurrile Arabesken läßt, wenn etwa das Heft, in dem die Knaben ihre Beobachtungen und Erlebnisse festhalten, in animierten Sequenzen lebendig wird. Eine zweite, eine endlich kindliche Wirklichkeit neben den Bildern von Tod, Gewalt und Verwahrlosung. Und ein filmkünstlerischer Trost.

Originaltitel: A NAGY FÜZET

Ungarn/D 2013, 113 min
FSK 12
Verleih: Piffl

Genre: Drama, Literaturverfilmung

Darsteller: András Gyémánt, László Gyémánt, Piroska Molnár, Ulrich Matthes, Ulrich Thomsen

Stab:
Regie: János Szász
Kamera: Christian Berger

Kinostart: 07.11.13

[ Sylvia Görke ]