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Der Sommer mit Mamã

Warmherzig, intelligent und raffiniert – ein feines Stück Kino aus Brasilien

Val, eine kräftige Frau Ende 50, seit über zehn Jahren Haushälterin und Kindermädchen in einer reichen Familie in Saõ Paulo, stellt ein nagelneues Kaffeeservice auf ein Tablett. Eine schwarze Tasse kommt auf eine weiße Untertasse und umgekehrt, dazu noch die mitgelieferte Thermoskanne. Aber verflixt, die paßt ja gar nicht mehr auf das Tablett. So sehr Val auch probiert, die vorgesehene Ordnung will sich einfach nicht herstellen lassen.

Wenig später holt Val ihre Tochter Jéssica vom Flughafen ab. Die 17jährige kommt aus dem armen Nordosten Brasiliens in die Megametropole, um sich den Aufnahmeprüfungen für die Universität zu stellen. Mutter und Tochter haben sich über Jahre nicht gesehen. Jéssica wuchs bei Verwandten auf, Val verdiente derweil viele Kilometer entfernt das Geld für den Unterhalt der Tochter. In die Freude über ihr Wiedersehen mischen sich Gewissensbisse und der tiefe Schmerz, ihr Kind des Geldverdienens wegen vernachlässigt zu haben. Im Grunde steht Val der Sohn ihrer Dienstherren näher als die eigene Tochter. Nun will sie Jéssica in ihrem kleinen Dienstmädchenzimmer unterbringen, das sich im Untergeschoß des Hauses ihrer Arbeitgeber befindet. Doch die so charismatische wie aufmüpfige Tochter ist nicht bereit, sich in die ihr zugedachte Rolle des bescheidenen und dankbaren Mädchens von einfacher Herkunft zu fügen. Ihre Anwesenheit bringt das fein austarierte Beziehungsgefüge im Haus ins Wanken.

Der Filmemacherin Anna Muylaert ist mit DER SOMMER MIT MAMÃ eine warmherzige und intelligente Komödie geglückt, welche die sich wandelnden sozialen Verhältnisse in Brasilien unter die Lupe nimmt. Jéssica steht für eine junge Generation, die vehement ihr Recht auf Teilhabe einfordert und damit auf den Widerstand der Etablierten stößt. So gibt sich die Hausherrin Bárbara ihr gegenüber nur so lange aufgeschlossen, wie Jéssica sich an die ungeschriebenen Regeln des Haushalts hält, und sie es zum Beispiel unter allen Umständen vermeidet, den Pool zu benutzen. Dieser Pool ist ein Sinnbild dafür, wem welche Rechte in der Gesellschaft zustehen. Die Raffinesse des Drehbuches liegt darin, daß kein einfacher Oben-gegen-Unten-Gegensatz postuliert wird. Im Grunde sind alle Menschen in ihren sozialen Rollen eingesperrt, auch die Oberschicht. Während seine Frau Jéssica als Bedrohung für ihre angestammte Position empfindet, ist der alternde Hausherr Carlos dankbar für die Abwechslung, welche die junge Frau in sein müßiges Leben bringt. In einer Szene kommt es gar zu einer durch ihre Offenheit rührenden Liebeserklärung.

Im Zentrum dieses fabelhaften Films steht Val, welche die brasilianische Star-Schauspielerin Regina Casé mit großer Präsenz verkörpert. Humor und Traurigkeit liegen in dieser Figur nur eine Handbreit auseinander. Val verzweifelt, weil ihre Tochter ganz selbstverständlich Räume einnimmt, die sie sich selbst niemals zugestehen würde. Ihre Welt gerät ins Wanken. Mit Camíla Márdila als Jéssica spielt sich das Mutter-Tochter-Gespann sofort in die Herzen des Publikums.

Leichtfüßig, beschwingt und mit einer Portion Melancholie garniert, erzählt der Film eine Geschichte, die nicht nur in Brasilien verstanden wird. Am Ende gestattet er sich souverän eine Prise Telenovela: Das darf das Kino, genau so kann Kino sein!

Originaltitel: QUE HORAS ELA VOLTA?

Brasilien 2015, 110 min
FSK 0
Verleih: Pandora

Genre: Tragikomödie, Poesie

Darsteller: Regina Casé, Camíla Márdila, Lourenço Mutarelli, Karine Teles

Regie: Anna Muylaert

Kinostart: 20.08.15

[ Dörthe Gromes ]