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Der Verdingbub

Tango svizzero für eine gestohlene Kindheit

Seit etwa einer Dekade arbeiten sich die Schweizer an einem historischen blinden Fleck ab. Die sogenannten Verdingkinder sind ein hausgemachter nationaler Makel, der das Ur- und Selbstbild vom Bergidyll mit Heidi und Alpöhi ganz grundsätzlich beschmutzt. Während nämlich Johanna Spyri der Welt ein inzwischen zur Folklore gehörendes Bildungs- und Zugewandtheitsmärchen um ein Waisenmädchen erfand, drohten viele von Heidis Altersgenossen an der schweizerischen Wirklichkeit zugrunde zu gehen. Denn bis in die 50er Jahre wurden elternlose oder anderweitig aus dem sozialen Rahmen fallende Kinder vom staatlichen Fürsorgesystem an Bauernhöfe vermittelt, wo sie durch harte Arbeit ihr Existenzrecht zu verteidigen hatten.

Am Beispiel der um 1950 angesiedelten fiktiven Geschichte des Waisenjungen Max vollzieht Regisseur Markus Imboden das kollektive Schicksal dieser Kinder nach und läßt seinen Protagonisten stellvertretend alle denkbare Gewalt, Willkür und Erniedrigung erleben. Gegen das übliche Kostgeld gelangt Max zu den Bösigers, einem verbitterten Bergbauernpaar, das seinem Namen alle Ehre macht. Sein Vorgänger wurde mit den Füßen zuerst vom Hof geschafft. Jetzt ist es an Max, die üblen Launen, den Suff und die Schläge dieser Leute zu ertragen, die ihn in ihren glücklosen Arbeitsalltag einspannen wie ein Stück Vieh. Immerhin, er darf zur Schule, wenn er seine morgendlichen Aufgaben erledigt hat. Immerhin, er besitzt ein Akkordeon, das ihm gleichermaßen Trost und Zukunftstraum ist. Mit der 15jährigen Berteli, dem Verdingmädchen in der Nachbarkammer, könnte man ihn träumen, am liebsten zum Tango in Argentinien …

Imboden bemächtigt sich des Themas in erwartbaren Bildern: die einschlägigen Requisiten der Zeit, wie die Menschen gedrängt auf engem Raum, bedeckt von einer Armutspatina aus Mist und Dreck. Man kennt sie, diese detailverliebte, durchaus saftige Elendsmeierei, und man hat gelernt, sich von ihr historisch stimmen zu lassen. Doch beim Ausmalen der Geschichte wurde kaum Platz für Reflexionen gelassen, für jenes unverzichtbare bißchen Luft, in dem jenseits von Traurigkeit und Brutalität emotionale oder gedankliche Reibung entstehen kann.

Stattdessen wird man von einem ins nächste Gewaltereignis gestürzt – und ertappt sich bei unziemlichen Gedanken: über die nicht ganz schlüssige Besetzung, die nicht immer einleuchtende Topographie, den Tango und die Schweiz.

CH 2011, 103 min
FSK 12
Verleih: Ascot

Genre: Drama, Historie

Darsteller: Max Hubacher, Lisa Brand, Katja Riemann, Stefan Kurt, Max Simonischek, Miriam Stein

Regie: Markus Imboden

Kinostart: 08.11.12

[ Sylvia Görke ]