CH 2018, 98 min
FSK 6
Verleih: GMfilms

Genre: Dokumentation

Regie: Thomas Haemmerli

Kinostart: 22.11.18

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Die Gentrifizierung bin ich

Schöner wohnen, aber wie?

Es gibt kein Entkommen vorm zeitfressenden Streß. Dennoch findet man ausreichend Gelegenheiten, einander zu versichern, wie sehr man just in diesem Moment drunter steht. Gerade in Großstädten, wo mutierter „Dichtestreß“ der Beute harrt. Bedeutet: alles eng, alles übervölkert, jeder Schritt landet bei einem Wildfremden auf dem Fuß. Und wer trägt daran die Schuld? Nicht erst nach der Flüchtlingskrise natürlich die Zugewanderten!

Dem setzt Regisseur Thomas Haemmerli gleich klare Worte entgegen: „Das Gejammer der Xenophoben ist Unfug.“ Doch anders als unbewiesene Parolen mit Tatsachen verwechselnde Schreihälse weiß Haemmerli die Ansage durch Argumente, darunter Statistiken, zu untermauern. Da schrillt’s im Kopf, statistikverseuchte Dokumentationen garantieren grundsätzlich eines, Langeweile nämlich. Ha, nicht bei Haemmerli! Hier grüßen sterbeunwillige Alte (welche eigensinnig Wohnungen besetzen) kämpferisch in die Kamera, oder erfährt die vom Vergehen bedrohte „platzsparende Lebensform Familie“ Bebilderung aus seligeren Zeiten, also etwa um die 50er. Audiovisuelle Originalität, schlagfertiger Witz, man bleibt dran.

Und interessiert sich dafür, daß Haemmerli, den Rahmen zimmernd, seine private Geschichte erzählt. Flucht vor der Schwiegermutter gen São Paulo, Schnappschüsse irre blinzelnder neurotischer Katzen, Haemmerli nackend, Sprünge durch Zeit und Orte. Immer zwei Kern-Themenfelder auf der Agenda: Wieso schaffen es einige Länder, ihr Raumproblem besser zu lösen, sogar sozial Schwache mitten im Zentrum anzusiedeln, was macht – unter anderem – die Schweizer Obrigkeit falsch? Und wie wandelte sich Haemmerli selbst, einstiger linker Freigeist, jetzt ziemlich bequemer Vater zweier Kinder und, siehe Titel, vermeintlich Instrument des Schreckgespenstes Gentrifizierung?

Stets auf Unterhaltungswert bedacht und dabei oft erfrischend schräghumorig – direkt zu Beginn wird die eben noch unerschrocken winkende Assistentin eines TV-Wissenschaftlers wortwörtlich tierisch gestreßt – fließen Informationen jedweder Art. Manchmal auch über, wenn es schließlich ein Rückblick oder eine Wortschöpfung à la „Gäßchen-Elend“ zu viel waren. Verschmerzbar. Haemmerli gelingt trotzdem die Gratwanderung zwischen persönlicher Reflexion, denkanstoßender Faktendarlegung und Spiegelung, wie erschreckend wenig sich bestimmte Einstellungen seit den 70ern eigentlich geändert haben.

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...