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Die Jagd

Wenn Unschuld ein Leben pulverisiert, und Kleinkrieg keine Sieger kennt

Gleich neben dem Kino liegt ein Kindergarten. Es ist einer der wärmeren Tage dieses so kalten Winters, die Erzieherinnen – vielleicht ist auch ein Erzieher dabei – haben die Kleinen in eine seltene Sonnenstunde geschickt, herrlicher Lärm zieht über den Schnee. Doch das Kreischen und Lachen klingt anders nach dem Sehen von DIE JAGD. Ein Film bringt das Frösteln zurück. Es ist Thomas Vinterbergs siebter. Mit dem Familienkriegsdrama DAS FEST hatte der Däne 1998 einen neuzeitlichen Klassiker geschaffen, zwölf Jahre später inszenierte er mit DAS BEGRÄBNIS den zweiten Teil davon zunächst nur für das Wiener Burgtheater. Jetzt also DIE JAGD, bei dem sehr zeitig zu ahnen ist, daß es nur am Rand um Rotwild gehen wird. Rot werden vor allem die Figuren auf der Leinwand (und davor wahrscheinlich auch) – aufgrund ihres Zorns, Entsetzens, Mitgefühls, ihrer Ohnmacht und Wut.

Wieder greift Vinterberg das zentrale FEST-Thema auf: Mißbrauch. „Du machst einen Film“, sagt der 40jährige, „aber eigentlich inspirierst du damit einen viel größeren Film, der sich darum herumentwickelt.“ Hier ist es ein sensibles Sujet, ein hochkomplexes, eines, das viel zu riskant sein sollte für schnelle Urteile. Denn es zeigt, wie tief sich die Gesellschaft in Probleme hineingeritten hat, die kaum mehr zu steuern sind. In DIE JAGD sind sie komprimiert zu sehen, kommen ohne Wertung und moralisch unbehauen, mit Kontur und dem Ausmaß der Dinge – mehr vermag Kino nicht zu leisten.

Lucas hat einen Draht zu Kindern. Als die Schule im Ort geschlossen wurde, kam er als Erzieher im Kindergarten unter und kompensiert mit dieser Arbeit auch privaten Ärger. Seine Frau ist weg, den pubertierenden Sohn Marcus sieht er selten, das Haus am Wald ist zu groß für Kleinkram. Wenigstens scheint sein jagender Freundeskreis intakt. Klara, die Tochter des besten Freundes, fühlt sich besonders zu Lucas hingezogen, sieht in ihm – ja, was eigentlich? Was Kinder eben sehen und fühlen wollen, und sei es noch so verdreht. Doch dann: die Zurückweisung, die keine war, nur ein Hinweis von Lucas an die Schutzbefohlene, ein Markieren eindeutiger Grenzen. „Nein, Klara, auf den Mund küssen darfst Du mich nicht!“ Das Mädchen sackt aus Enttäuschung förmlich zusammen, lügt, bastelt sich ein Szenario zusammen, erzählt Grethe davon, der Chefin des Kindergartens, und löst eine unheilvolle Kettenreaktion aus, die nur Opfer kennen kann, keine Sieger.

Konstruktion – Dekonstruktion. Thomas Vinterberg entwirft DIE JAGD als Blende auf eine quälende Wirklichkeit. Der besagte „Film im Film“ bekommt Dramaturgie durch Ängste, Nöte, Normen. Grethe flüchtet sich in Aktionismus von Amts wegen, fühlt den heißen Atem entsetzter Eltern, Behörden, Kollegen schon im Nacken. „Wir glauben immer den Kindern“, wird sie mit bedrückender Leere in der Stimme sagen. Entsetzlich rasant nimmt der Prozeß der Vorverurteilung seinen Lauf, wird die kleine Klara mit Suggestivfragen konfrontiert, die sie in einem gesunden Umfeld nie und nimmer beantworten sollte, wird Lucas jeder noch so kleinen Chance einer Verteidigung beraubt, pulverisiert sich sein Leben.

Eine schnelle Klärung wäre filmisch kaum interessant gewesen. Sie würde nicht bringen, was Thomas Vinterberg mit unbarmherziger Genauigkeit zeigt: Das, was mit den Menschen passiert, wie sie heucheln, kämpfen, Farbe bekennen, zweifeln, wie sie vertrauen, verurteilen, sich in Selbstjustiz ergehen. Und absolut nichts an diesem packenden Kinostück provoziert das Vergessen der real mißbrauchten Kinder, draußen, wo es den hier ersponnenen Keller wirklich gibt. Oder Betten. Oder Badewannen.

Wieder beeindruckt an einem Dänen-Film die kollektive Präsenz der Darsteller, die die kleinste Nebenrolle erfaßt. Was aber die kleine Annika Wedderkopp spielt, ist einfach nur unfaßbar. Ihre zur Seite geschniefte Stupsnase wird lange, lange in Erinnerung bleiben. Oder ihre Begegnung mit Lucas am Schluß, der noch nicht das Ende ist.

Ganz sicher wird es über das Finale von DIE JAGD die meisten Diskussionen geben. Auch das gehört dazu, wenn man schon im Frühjahr den Film des Jahres gesehen hat.

Originaltitel: JAGTEN

DK/S 2012, 111 min
FSK 12
Verleih: Wild Bunch

Genre: Drama

Darsteller: Mads Mikkelsen, Annika Wedderkopp, Thomas Bo Larsen, Susse Wold, Alexandra Rapaport

Regie: Thomas Vinterberg

Kinostart: 28.03.13

[ Andreas Körner ]