Originaltitel: BLINDNESS

USA 2008, 120 min
FSK 12
Verleih: Kinowelt

Genre: Drama, Literaturverfilmung

Darsteller: Julianne Moore, Mark Ruffalo, Gael García Bernal, Danny Glover, Don McKellar

Regie: Fernando Meirelles

Kinostart: 23.10.08

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Die Stadt der Blinden

Intelligentes Kino über den Kollaps der Moral

Sicherlich hat José Saramago den Nobelpreis auch dafür bekommen, weil er ein Autor ist, der sich zugleich als klug reflektierender Philosoph und visionärer Mahner erweist. So etwas kommt beim Komitee in Schweden immer gut an, sollte aber all jene, die von Natur aus womöglich überladener Metaphorik ängstlich begegnen, nicht abhalten, sich diese brillante Verfilmung eines Erfolgsromans von Saramago anzusehen. Denn natürlich kann man hier tagelang deuten, tiefen- wie küchenphilosophisch, man kann sich aber letztendlich einfach auch fesseln und begeistern lassen von einer Geschichte, die gleichermaßen absurd und morgen möglich scheint.

Schon die ersten der kaltblauen Bilder verheißen nichts Gutes: vor den Augen eines aufgebrachten Autofahrers verschwimmt die Welt, er erblindet in Minutenschnelle, Menschen eilen ihm zu Hilfe - definitiv eine solidarische, aber fürs eigene Wohl fatale Entscheidung: Der nette Mensch, der den Wagen des Blinden nach Hause fährt, die sich sorgende Frau und der umsichtig behandelte Arzt des Blinden - sie alle bleiben zwar namenlos, darüber hinaus bald eng verbunden. Denn sie tauchen ab in die Welt des weißen Nebels. Eine Seuche breitet sich aus, und die Regierung reagiert wie so oft in brenzligen Situationen: erst hilflos, dann totalitär. Sie verfrachtet die Betroffenen in ein ehemaliges Krankenhaus, mehr KZ als ausgedienter Ort der Genese, nur das Notwendigste wie Lebensmittel wird aus sicherem Quarantäneabstand aus dem Helikopter geworfen. Und dann überläßt man die Blinden einfach ihrem Schicksal. In dieser Notgemeinschaft entstehen Systeme, man gliedert sich in Stationen, vorerst bemüht um Strukturen, aus denen jedoch ganz rasch Hierarchien erwachsen.

Klar, hier winkt Orwell keß am Gartenzaun, aber letztendlich ist der Mensch nun mal so primitiv wie es hier durchexerziert wird. Deshalb erzählt Meirelles komplett nachvollziehbar von einem aufkommenden Faschismus, von Erniedrigungen, von Menschenhandel, Vergewaltigungen, von all dem Viehischen in uns. Und am unerträglichsten ist dies für die Frau des Arztes. Zwar hilft sie, wo sie nur helfen kann, doch ist sie sicherlich kein besserer Mensch als die anderen. Sie kann nur eben sehen ...

Natürlich könnte man all das Parabelhafte an dem Film herausloben, doch das ist es nicht allein: es ist zweifellos ein visionäres Werk, aber auch vor allem das eines wahren Künstlers. Meirelles versteht es derzeit wie kein Zweiter aus kühlen, klug arrangierten, ungewöhnlich geschnittenen Bildern, unterlegt mit - im Sinn des Wortes - intelligenter, also begleitend "erzählender" Musik, eine Welt zu erschaffen, in die wir begeistert einen Blick werfen, vor der wir uns zeitgleich fürchten, weil sie echt scheint, weil sie von uns erzählt. Und dazu passen perfekt die Bilder von den treuen Begleitern noch jeder Epidemie, die Ratten, die gleichwohl gesitteter scheinen als der blinde, Geschäfte plündernde und lynchende Mob.

Meirelles bürstet sogar aus einem Spielberg-Bild noch jeden Kitsch, wenn etwa ein Hund, auch er am Fastverhungern, in den verrotteten Großstadtstraßen noch immer zu einer Geste der Zuneigung imstande ist: Er leckt der Frau des Arztes das Gesicht, so zärtlich, so hilflos, wie sie ihrem Mann vor der Katastrophe jüngst die Augen küßte. Das ist stark, das ist eben nicht theoretisch, das sind kleine Zugeständnisse an eine größere Hoffnung, daß es eben doch noch eine Chance geben könnte. Auch eine des Ausbruchs aus unserer Geiselhaft: der des tumben Funktionierens.

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.