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Die süße Gier

Meisterhafte Anmerkungen zur universellen Unmoral

Eine Runde Aufstöhnen für alle: Romanadaption, die x-te? Eine weitere brave Übernahme der Vorlage, hier Stephen Amidons „Der Sündenfall“? Haha, mitnichten, liebe Leserinnen und Leser! Regisseur Paolo Virzì pickt bloß Grundsätzliches heraus, verlegt außerdem galant den Handlungsort (adieu USA, willkommen Italien). Obgleich dies problemlos als Obduktion der politischen Landeslage aufgefaßt werden darf, macht er gleichzeitig fast spielerisch klar, wie global die eigentlich schnell erzählte Handlung funktioniert.

Sie rückt derzeit Makler Dino auf den Pelz, welcher sich hündisch unterwürfig Finanzhai Giovanni ans schleimige Revers wirft, das dicke Geld machen möchte. Giovannis Sohn Massimiliano wiederum ist mit Dinos Tochter Serena verbandelt, es bleibt ergo in der Familie. Schnitt auf Giovannis Gattin Carla, ein gelangweiltes Luxusweib, dessen größter Streß darin besteht, die heutige Maniküre abzusagen. Ob wohl die spontan zum Nahziel erkorene Rettung des verfallenden Theaters ums Eck interessantere Herausforderungen birgt? Neuer Schnitt auf Serena, teenagergemäß nach Liebe und der eigenen Identität forschend. Und dann wäre da noch ein überfahrener Radfahrer, eben im Krankenhaus verstorben ...

Identische Geschehnisse beleuchtet Virzì nun anhand unterschiedlich eingenommener Perspektiven, dreht bislang sicher Geglaubtes komplett um 180°, schließlich sieht jeder das, was er eben will. Dabei dient die Frage, wer letztlich den Unfallwagen steuerte, nur zum Aufhänger, seine Figuren genußvoll zu demontieren – und das kapitalistische System gleich mit. Exakt errechnete 218.976 Euro zahlt die Versicherung des Toten aus, der Originaltitel IL CAPITALE UMANO, also „Das Humankapital“, gewinnt an zynischer Qualität. Für Carla und Co. stellt diese Summe eher aus der Portokasse entnehmbares Kleingeld dar, aus Dinos Blickwinkel wäre sie richtig fette Beute. Aber um rechnerische Feinheiten geht’s nicht wirklich, vielmehr hält Virzì dem filmischen Personal einen bösartig-spöttischen Spiegel vor, zimmert doppelte und dreifache Böden, lotet Fallhöhen aus, lädt zur Diashow der finsteren Abgründe.

Ausgerechnet Serena, die nominell Unreife, taugt als Identifikationsfigur, der klägliche Rest, quasi gar Bodensatz, porträtiert mehrheitlich Antagonisten. Egal, ob Dino, gewissenloser Vater, der Gier verfallen, selbst das eigene Fleisch und Blut verraten und verkaufen würde, die weinerliche Carla – von Valeria Bruni Tedeschi anbetungswürdig authentisch gemimt – erweckendes Anschreien nahezu einfordert, oder Massimiliano schon jungjährig den zukünftig zu erwartenden, weil elternseitig entsprechend verzogenen, Widerling gibt. Sodom und Gomorrha regieren komprimiert auf engstem Raum, Verkommenheit kuschelt sich kichernd an Lüge, und alle gemeinsam treten humane Werte tief in den Schmutz. Virzì wetzt derweil die Erzählmesser bis zur verletzenden Schärfe, schafft ohne Mühe klassische Spannungsherde, streift Film noir und griechische Tragödie.

Im Heimatland wurde DIE SÜSSE GIER unter einer dicken Filmpreisdecke geradewegs eingemummelt, hierzulande zeigte sich die Kritik bisher dagegen teilweise wenig begeistert – beispielsweise stand zu hohe Komplexität am Pranger oder war von „wenig spukenden Tönen“ zu lesen. Ersteres benötigt weiß Gott keinen ernsthaften Kommentar. Und was den zweiten Einwand anbetrifft, hier mal ein Gedankenspiel: Nun, vielleicht liegt das einfach daran, wie Virzì sein brutal gemeines, richtig reinhauendes Drama eben nicht geisterhaft bleiche Friedhofsatmosphäre verbreitend inszeniert? Sondern hinterhältig als giftige Komödie tarnt, welche ungeachtet aller radikalen Enthüllung menschlicher Ekelhaftigkeiten eben auch – man traut sich in Erwartung drohenden Ausbuhens ja kaum, es zu schreiben – verdammt unterhaltsam und, von grandios spielfreudigen Darstellern getragen, stellenweise tatsächlich unverschämt komisch ist! Er gehört halt irgendwie verzweifelt weggeschmunzelt, der kehlenzuschnürende Kloß in Hals, Magen und Solarplexus. Virzì, cineastischer Chirurg am geöffneten Hirn, würde angesichts solcher Anstrengung sicherlich diabolisch grinsend in die Hände klatschen.

Originaltitel: IL CAPITALE UMANO

I/F 2013, 109 min
FSK 12
Verleih: Movienet

Genre: Drama, Satire, Komödie

Darsteller: Valeria Bruni Tedeschi, Fabrizio Bentivoglio, Valeria Golino, Fabrizio Gifuni, Luigi Lo Cascio

Regie: Paolo Virzì

Kinostart: 08.01.15

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...