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Die zweite Hälfte der Nacht

Das ganze Leben ist ein Film

Ja, die große Liebe ... Mancher sucht ewig danach, ein anderer hat sie nicht halten können. Martino zählt zu den Glücklichen, welche sie jetzt, in gerade diesem Augenblick, leben dürfen. Allerdings hat weder Frau noch Mann das Herz des extrem schweigsamen Jünglings erobert, nein. Seine ganze Zuneigung gilt dem Kino. Da ist es nur zu logisch, daß Martino als Nachtwächter im Turiner Filmmuseum arbeitet. Nach Mitternacht umgeben ihn Memorabilien Marilyn Monroes, ein riesiges Poster von Anita Ekberg – und natürlich die Stummfilme Buster Keatons, welche er mit Leidenschaft immer wieder anschaut. Und tatsächlich hat Martino, der stumme, ernste, aber höchst tolpatschige Clown, selbst verblüffende Ähnlichkeit mit Keaton.

Sein beschauliches nächtliches Leben gerät aus den Fugen, als plötzlich Amanda, ganz italienisches Temperament und darüber hinaus ihrem Leben gegenüber höchst kritisch eingestellt, in das Museum poltert. Amanda weiß nicht, daß Martino ein Geheimnis hütet, in dem sie keine unbedeutende Rolle spielt. Auch ein Autodieb mit Prinzipien und eine astrologisch verpeilte Mitbewohnerin fungieren unvermittelt als Darsteller in Martinos privatem Film. Vorhang auf!

Was Davide Ferrario hier auf die Leinwand zaubert, ist ein magisches Märchen, eine Ode an das Leben, die immer etwas abseits stehenden Menschen – aber vor allem an das Kino. Der Mann fabuliert, inszeniert und illustriert seine grundsätzlich einfach gestrickte Geschichte mit derartiger euphorischer Hingabe, daß man alle "Kenne ich schon"-Gedanken aus dem Hirn streicht und sich wie ein staunendes Kind mit offenem Mund verführen läßt. Von einzigartigen Bildern, dezenter Komik, der offenkundigen Zuneigung Ferrarios zum Sujet. Und natürlich der stets spürbaren Verehrung dessen, was den cineastischen Zauber ausmacht. In einer wunderbaren Szene erinnert der Off-Kommentator das Publikum daran, daß es ohne die große Leinwand eigentlich gar nicht existieren würde. Simpel, aber effektiv.

Daß Ferrario seine bis dato wunderbar wirren Handlungsstränge auf zu einfachem Weg entknotet, indem er die – hier tragischen – Kapriolen des allgegenwärtigen Kollegen Zufall bemüht, ist allerdings ziemlich schade. Dennoch: Für Filme wie diesen wurde einst das Kino erfunden.

Originaltitel: DOPO MEZZANOTTE

I 2003, 90 min
Verleih: Kairos

Genre: Drama, Liebe

Darsteller: Giorgio Pasotti, Francesca Inaudi, Fabio Troiano, Francesca Picozza, Silvio Orlando

Stab:
Regie: Davide Ferrario
Drehbuch: Davide Ferrario

Kinostart: 14.09.06

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...