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Ein Haus in Ninh Hoa

Annäherung an eine Vorstellung von Familie

Details eines Hauses in langen, präzise kadrierten Einstellungen: Fensterkreuz, schmaler Gang, Geländer. Dann Reisfelder, Straßenatmosphäre, die Nachrichten des Tages schallen aus einem Lautsprecher. Es wird Regen geben. Familie Le wohnt in in der Kleinstadt Ninh Hoa. Regisseur Philip Widman besucht zusammen mit Nguyen Phuong-Dan, der seit über 40 Jahren in Deutschland lebt, die im Süden Vietnams verbliebene Familie.

Regisseur Philip Widman spricht von einem „szenischen Arbeiten als experimentelle Form im dokumentarischen Feld.“ Die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte seines Ko-Autoren wirkt jedoch zunächst einem streng beobachtenden Dokumentarismus verpflichtet. Mehr noch, Widman scheint den Zuschauer zwingen zu wollen, die alltäglichen Handlungen, mit denen die Mitbewohner ihr Zuhause in Ninh Hoa „bespielen“, aussitzen zu müssen. Jede Anmutung des Spektakels, eines zu kurz geworfenen, touristischen Blickes, wird vermieden. Man spürt das Bewußtsein des Filmemachers, der auch die Kamera führt, daß er hier das „Fremde“ auslotet, sich den Zugang erarbeiten will. So wird Beobachtung zur Inszenierung, entfaltet sich durch genaues Hinsehen langsam ein fast meditativer Sog. 

Die Geschichte der Familie Le entblättert sich in wiederkehrenden Ritualen, wenigen Tischgesprächen, Stills von Einrichtungsgegenständen, dem Soundteppich des Ortes, Anekdoten und einigen Briefen. Es werden die Lebensläufe dreier Brüder sichtbar: Einer, der Vater von Phuong-Dan, ging mit seiner Familie nach Deutschland, einer gilt seit den letzten Kriegstagen als verschollen. In Ninh Hoa wohnt nur noch Tiep. Er trinkt viel, seine beiden Schwestern blieben ledig. Sie haben das Heiraten wohl einfach „vergessen.“ Phuong-Dan geht es darum, ein Medium zu finden, das die verlorengegangenen Teile seiner Großfamilie rekonstruiert. Dafür läßt er die Geister berufen, um die Überreste des vermißten Onkels zu finden, und bedient sich gleichzeitig der Annäherung über den filmischen Prozeß.

Die Gemengelage aus Identität, Bewußtsein und äußerer Erscheinung, die dabei spürbar zur Reibungsfläche wird, ist in größeren Kontext gesetzt, die Frage der Globalisierung. Traditionen, Selbstbilder und kulturelle Werte verschwimmen. Das löst Sehnsucht aus, auch Angst, Kunst und Krieg. Man muß aber Menschen nur lange genug beobachten, um sich in ihnen wiederzufinden.

D 2016, 108 min
FSK 0
Verleih: Grandfilm

Genre: Dokumentation

Regie: Philip Widman

Kinostart: 16.02.17

[ Susanne Kim ] Susanne mag Filme, in denen nicht viel passiert, man aber trotzdem durch Beobachten alles erfahren kann. Zum Beispiel GREY GARDENS von den Maysles-Brüdern: Mutter Edith und Tochter Edie leben in einem zugewucherten Haus auf Long Island, dazu unzählige Katzen und ein jugendlicher Hausfreund. Edies exzentrische Performances werden Susanne als Bild immer im Kopf bleiben ...