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Hinter den Wolken

… ist die Filmkunst von makelloser Güte

Wahre Regie-Meisterschaft entfaltet sich in (fast) wortloser Kürze: Emma ißt allein, trägt anschließend eine Mahlzeit nach oben, zum Bett ihres Mannes Frederik. Augenblicke danach sorgt sie unter Zuhilfenahme eines Schlauches dafür, daß Frederik den Regen prasseln hört, und wiederum Sekunden darauf kleidet sich Emma für seine Beerdigung. Knapp umrissene Szenen einer Ehe bis zum Schluß, großartig zurückgenommene Skizze dieser Frau, Grundlage für alles, was folgt.

Konkret sind das zunächst ein schwer erträglicher endgültiger Abschied und tiefer Fall, bedeutet doch der Tod eines nahestehenden Menschen für Hinterbliebene meist selbst ein Sterben – der Lebensfreude, möglicherweise des Zukunftsglaubens, oft des Mutes zum Weitermachen. Aber Emma ist nicht nur stark, sie trifft ebenso Gerard wieder, Frederiks ehemals besten Freund, aus ihrer Perspektive die aus ängstlicher Dummheit aufgegebene wahre Liebe. Circa 50 Jahre hat die einstige leidenschaftliche Verbundenheit auf der Uhr, trotzdem flackern Reste neu auf, fangen plötzlich an zu lodern, brennen schließlich lichterloh …

Nicht gerade der übliche Romantikspaß, geht ja auch gar nicht, abgesehen von Emmas bedrückender Situation sind die beiden Verliebten schließlich keine 16, 36 oder 56 mehr. Spielchen und vorsichtiges Taxieren verbietet der biologisch nun mal im Finale befindliche Körper, es heißt „Jetzt oder nie!“; dazu gehört, gegen eingefahrene Moralvorstellungen zu rebellieren, eigene Interessen aufs Treppchen zu stellen, Schuldgefühle in die geistige Tonne zu werfen, so schwer das im Einzelfall praktisch zu bewerkstelligen sein mag. Zur externen Verdeutlichung der Herausforderung dienen zwei Kontraparteien, einerseits wäre da Emmas Enkelin Evelien. Nach vorübergehender Irritation und notwendiger Abkehr vom eigenen Liebeskummer unterstützt das aufgeschlossene Mädel die Oma, spielt Chauffeurin für Dates. Sie begreift, daß Emma ein Recht auf zweisame Zuneigung hat, und Evelien versteht ebenso: Oma begeht keinen Verrat am Opa, die Wertschätzung des Verstorbenen bemißt sich nicht an unendlich lang gedehnter beziehungsweise scheinbar schnell erledigter Trauerarbeit. Wir hören beiläufig von Beziehungsproblemen, sehen einmal, wie Emma in der Badewanne weint. Allein. Unbeobachtet. Herzzerreißend.

Ein verzweifelter Akt, den Tochter Jacky der Mutter wahrscheinlich abspräche. Aus Jackys Sicht zieht Emma nämlich die Erinnerung an Mann und Vater durch den Schmutz – wobei man fragen könnte, ob da nicht Eifersucht mitschwingt, schließlich hat die bereits verblühte Vermutlich-Mittfünfzigerin bloß eine karge Affäre vorzuweisen. Aus jener Konstellation entspringt ein Konflikt, welcher Gerard zum sarkastischen Seufzen zwingt: Man müsse als Jugendlicher die Eltern um Erlaubnis bei der Partnerwahl bitten – und später die Kinder.

Keine verzichtbare Szene stört den Handlungsfluß, im Gegenteil hätte diese grandiose Studie eines ganz alltäglich schwierigen Zusammenkommens viel länger dauern dürfen. Mehr Zeit für fein beobachtete Details wie Kondolenz ohne aus den Hosentaschen genommene Hände. Außerdem für hinreißende Selbstironie, deren Höhepunkt eine Bestandsaufnahme zu beachtender Zipperlein bildet, um die körperliche Näherung so beschwerdefrei wie möglich zu gestalten – ja, verblüfftes Jungvolk, Senioren haben Sex! Und selbstverständlich für zwei wundervolle Darsteller, welche dem Alter schöne Gesichter geben.

Originaltitel: ACHTER DE WOLKEN

Belgien 2016, 108 min
FSK 0
Verleih: Pandora

Genre: Tragikomödie, Liebe, Poesie

Darsteller: Chris Lomme, Jo De Meyere, Charlotte De Bruyne, Katelijne Verbeke, Lucas van den Eijnde

Regie: Cecilia Verheyden

Kinostart: 20.10.16

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...