Originaltitel: I, TONYA

USA 2017, 120 min
FSK 12
Verleih: DCM

Genre: Tragikomödie, Sport

Darsteller: Margot Robbie, Allison Janney, Sebastian Stan

Regie: Craig Gillespie

Kinostart: 22.03.18

9 Bewertungen

I, Tonya

Superber Anachronismus des Wahnsinns

So ziemlich jeder weiß ein bißchen was davon oder hat eine vage Erinnerung an diesen „Vorfall.“ Der „Vorfall“, der mehr als 20 Jahre zurückliegt und Tonya Harding endgültig zu Fall bringen sollte, der dabei so absurd ist, daß man sich ihn kaum hätte ausdenken können. Manchem spukt durch den Kopf, daß die ehemalige Eiskunstläuferin gar selbst Hand anlegte und mit der Kufe ihres Schlittschuhs das Knie der Gegnerin zertrümmerte, andere sehen vor ihrem geistigen Auge, wie Harding sich beim Training an die Konkurrentin ranschleicht und die Brechstange auspackt. Es lief natürlich ganz anders, damit spielt auch dieser Film und entblättert eine Geschichte, die viel krummer ist, als es jedmögliche Gedankenspiele erlauben, eine Geschichte, die regelrecht nach dem Kino geschrien hat – komisch, berührend, galleböse und in der Art, wie sich die Handelnden darin anstellen, auch dämlich.

Bei Tonya war die Kindheit nicht gerade vom Glück umzingelt. Hartnäckigkeit der gefühlskalten Mutter nachzusagen, wäre eine zarte Untertreibung, sie prügelte das Kind regelrecht aufs Eis, verjagte den geliebten Vater, verdrosch Tonya mit einer Haarbürste, auch fliegende Küchenmesser kamen zum Einsatz ... Es lief also manches schief. Der Mutter ging es mit dem Erfolg nie schnell genug, dabei mußte Tonya mit vier Jahren bereits den ersten Wettbewerb bestreiten. Das aus so einem Kind wohl eher kein handzahmes Eispüppchen im Engelskleidchen werden konnte, ist doch klar. Und schon deswegen hatte Harding es vor den Juroren niemals einfach, denn wer in schräger Anmut zu den Klängen von ZZ Top seine Kür läuft, darf bei den biederen Entscheidern kaum mit voller Punktzahl rechnen. Was Harding schon bald im Teenageralter ausrasten läßt, fluchen kann sie ganz wunderbar, auch das hat Mama ihr beigebracht ...

Wer nun ein perlenkettenartig heruntergespultes Biopic mit dem Endziel des „Vorfalls“ erwartet, wird enttäuscht, der Rest, ein hoffentlich großes Publikum, wird begeistert sein über diese in der Form unkonventionelle, in ihrer Derbheit manchmal atemstockende, gepflegt anachronistisch zwischen der Zeit sportlicher Erfolge und nachfolgender Präkariatsexistenz mutig switchende Abhandlung des puren Wahnsinns. Das Publikum wird bisweilen direkt angesprochen, und trotz aller Wildheit, die dem Film auch über den superben Schnitt und die entfesselte Kamera Tempo und Schlagkraft verleiht, entblättert sich eine anrührende Geschichte um den unbändigen Willen, unbedingt, sofort und für immer doch geliebt zu werden. I, TONYA ist wunderbar überzogen, verliert aber nie den Fokus auf eine Person, die für Erfolg, Ruhm und Liebe mehr zu geben bereit ist als andere.

Und der „Vorfall“ ist letztlich nur das Sahnehäubchen auf den Aktionismus und die Verkommenheit einer komplett degenerierten Bande um Harding und ihres – auch gern mal zulangenden – Ehemanns Jeff. So gerät das Aus-dem-Weg-Schaffen von Eiskunstlaufkonkurrentin Nancy Kerrigan zu einer völlig aus dem Ruder laufenden Oper der Idioten, bei der man Regisseur Craig Gillespie ein wenig die Häme nachspürt, was ihm nicht zu verdenken ist, wenn man von sattem Dilettantismus erzählt. Was ihm aber ebenfalls gelingt, ist der Appell ans Andersartige, sich eben nicht für alles und jeden verformen zu lassen. Sich in einer kreuzbiederen Sportart wie dem Eiskunstlauf in Amerika durchzusetzen, ist kompliziert, aber eigentlich lieben die Leute dort Stehaufmännchen. Harding hatte eine Chance. Oder zwei. Nur aus Niedertracht jemandem das Knie zu brechen, das winken dann noch nicht einmal die patriotischsten Amerikaner durch ...

[ Michel Eckhardt ]