Originaltitel: IL TRADITORE

I/F/D/Brasilien 2019, 153 min
FSK 12
Verleih: Pandora

Genre: Drama, Thriller

Darsteller: Pierfrancesco Favino, Maria Fernanda Candido, Fabrizio Ferrancane

Regie: Marco Bellocchio

Kinostart: 13.08.20

5 Bewertungen

Il Traditore

Blick ins Bestiarium

Es ist der 23. Mai 1992, als den Richter Giovanni Falcone sein Schicksal ereilt. Mit seiner Frau, einer Kollegin und drei Leibwächtern ist der so berühmte wie von einschlägigen Kreisen gefürchtete Falcone auf dem Weg vom Flughafen Palermo in sein Wochenendhaus, als am Autobahnabzweig Capaci eine in einem Drainagerohr versteckte 500-Kilo-Bombe gezielt zur Detonation gebracht wird. Ein Attentat, das nicht nur Italien erschüttern sollte, das als „Massaker von Capaci“ in die Geschichte einging und endgültig verdeutlichte, zu welcher tollwuthaften Rücksichtslosigkeit jene Männer bereit und auch in der Lage waren, denen Falcone über Jahre hinweg so effizient und erfolgreich wie kaum ein anderer im Nacken saß. Männer, die an jenem 23. Mai aufgeregt beieinander hocken und johlend den Schampus sprudeln lassen, als endlich die Nachricht vom Tod Falcones im TV flimmert. Und die dann, einer nach dem anderen, in einem Delirium des Hasses und der Genugtuung, kräftig auf die Mattscheibe rotzen, als auf dieser das Konterfei des Richters eingeblendet wird.

Entlarvender kann man das kaum zeigen, welch’ Geistes Kind diese Männer waren und sind. Und es ist auch deshalb die dichteste, vielleicht entscheidende Szenenfolge in Marco Bellocchios IL TRADITORE: Man sieht den Mordanschlag auf Falcone und unmittelbar darauf, mit einem harten Schnitt, die Reaktionen derer, die dafür verantwortlich sind. Und alles, was diesen 153minütigen Film umtreibt, komprimiert sich in diesen geradezu explosionsartig erschütternden Momenten: die rigorose Entmystifizierung eines Mythos’, an dem ja auch das Kino kräftig partizipiert. Es ist der Mythos von der Mafia als dunkel schillernder „ehrenwerter Gesellschaft“, der Mythos vom dunkel faszinierenden Charisma des Verbrechens. Und es ist der Mythos von der Cosa Nostra und ihrem viel beschworenen „Ehrenkodex“, den dann auch die Hauptfigur dieses Films, Tommaso Buscetta, der titelgebende IL TRADITORE (Verräter), immer wieder mal beschwört, an dem er sich festhält wie am porösen Rettungsring der moralischen Selbstlegitimation.

Mit Falcone hat Buscetta viel Zeit verbracht. Der hochrangige Cosa-Nostra-Boß wurde dem Richter zu einem der wichtigsten Kronzeugen im Kampf gegen die Mafia. Eine Zweckgemeinschaft, sicherlich. Weil Anfang der 80er eintritt, was Buscetta schon länger ahnte. Ein Krieg zwischen dem aufstrebenden Clan der Corleonesi und anderen Familien aus Palermo. Mehr als 1000 Todesopfer, Frauen und Kinder inklusive, wird dieser Krieg kosten, vor dem sich Buscetta vermeintlich rechtzeitig ins vermeintlich sichere Brasilien flüchtete. Doch vor einem wie Salvatore „Totò“ Riina, dem bald neuen „Boß der Bosse“ in der alten Heimat, ist man nie und nirgends sicher. Nicht umsonst wird der Mann in italienischen Medien als „Die Bestie“ tituliert. Buscetta begreift bald und durchaus schmerzhaft, daß ihn, wenn überhaupt, nur die radikale Flucht nach vorn retten kann. Die Flucht auf die andere Seite des Gesetzes.

IL TRADITORE ist Mafia-Epos, Gerichtsthriller, Geschichtsstunde und Charakterstudie. Sicher, das mag im direkten Vergleich zu den Meisterwerken des Genres schon dichter und raffinierter erzählt worden sein. Und doch beweist IL TRADITORE fraglos seine Qualitäten. Als Blick ins menschliche Bestiarium, als Gesellschaftsfresko explodierender Bomben und implodierender Moral.

[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.