D 2019, 98 min
FSK 0
Verleih: StudioCanal

Genre: Drama

Darsteller: Corinna Harfouch, Tom Schilling, André Jung

Regie: Jan-Ole Gerster

Kinostart: 07.11.19

18 Bewertungen

Lara

Im Käfig des falschen Lebens

Was den Cool Jazz ausmacht (also unter anderem), ist ja eine ganz bestimmte Emotionalität, in der sich die sehr urbane Kind-Of-Blue-Verlorenheit dieser Musik in schönster Stilvollendung zu entäußern vermag. Was auf einen Film übertragen etwa so aussehen kann: ein Tag, eine Nacht, die Stadt Berlin und ein junger Mann mit zu viel Zeit. Dazu ein episodisches Durch-die-Straßen-Streifen, wie ziellos. Ein Beobachten, konzentriert, aber ohne sich aufzudrängen. Und ein Drama, das dabei eher hinter den Szenen, hinter den Bildern pulsiert, als in ihnen.

OH BOY heißt der Film, mit dem der Regisseur Jan-Ole Gerster 2012 zeigte, daß tolles, formbewußtes Autorenkino auch in Deutschland (noch) funktionieren kann. Inklusive einschlägiger Preise, Kritikerhymnen und sogar guter Zuschauerzahlen. Gleichwohl hat Gerster satte sieben Jahre gebraucht, bis er jetzt mit LARA sein neues Werk vorstellt. Das Warten indes, es hat sich wahrlich gelohnt.

Auch, weil sich in LARA ein Erzählrahmen und eine Handschrift erhalten haben, ohne dabei auch nur einen Moment nach Kopie auszusehen: ein Tag, eine Nacht, die Stadt. Und dann Titelheldin Lara – keine junge Frau mehr, dafür eine, die ihr Leben satt hat. Just an ihrem 60. Geburtstag schiebt Lara des Morgens, kurz nach dem Aufstehen, in ihrer kleinen Hochhauswohnung einen Stuhl ans Fenster, um sich aus selbigem zu stürzen. Woraus nichts wird. Aus erst einmal durchaus auch hübsch absurden Gründen – und weil dann ja auch Lara zu einem Streifzug durch diesen Tag, diese Nacht, die Stadt aufbricht. Aufbrechen muß. Schließlich gibt just an diesem Lara-Geburtstagstag Sohn Viktor, ein begabter Jungpianist, erstmals ein Konzert mit eigenen Kompositionen.

Inwiefern dann gerade auch das mit Laras morgendlichem Anfall von Lebensüberdruß zu tun hat, zeigt dann Gerster in seinem Film nach einem Drehbuch BlazžKutins, welches zwar einschlägige Preise bekommen hat, das zu verfilmen aber gleichwohl jahrelang kein Interesse herrschte. Bis das Skript bei Gerster landete, der beim Lesen schon auf der zweiten Seite wußte, daß er diesen Film machen wollte – und das mit Corinna Harfouch in der Titelrolle.

Was einiges über Gersters Intuition sagt. Denn tatsächlich ist Harfouch in dieser Rolle ein Ereignis – und der Film wird es mit ihr. Folgt er doch in maximaler Aufmerksamkeit dieser Lara, dieser Frau, die sich nicht nur in einem Gefühls-panzer aus mitunter schon beeindruckend schonungslosem (und durchaus auch unterhaltsamem) Sarkasmus birgt, sondern auch in ihren ambivalenten Handlungen immer wieder Rätsel aufgibt. Und wo in OH BOY das Streifen durch die Stadt etwas von einer Verlorenheit hat, in der man immer auch einen Moment der Freiheit entdecken mag, zeigt LARA diese Verlorenheit als das manische Um-sich-Beißen einer Frau, die wie gefangen ist im Käfig ihres falschen Lebens.

Womit das Flanierende, das dem Jazz (und somit OH BOY) eigen ist, hier einer stilistisch „klassischeren Komposition“ wich. Was natürlich weit mehr meint, als nur den Soundtrack auf der Tonspur. Es ist die strengere Struktur dieses Films, seine Satzhaftigkeit. Und es ist die Unerbittlichkeit, die in seinem Blick liegt, so wie auch im Blick Laras immer Unerbittlichkeit liegt. Zumindest bis zum finalen Ausbruch, der hier alles sein kann: Befreiung und Verzweiflung, ein Anfang oder das Ende. Oder gar alles zugleich. Und in jedem Fall ein unvergeßlicher Schlußakkord.

[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.