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Laurence Anyways

Der Mut zum Ich und die Grenzen der Liebe

Wen liebt man eigentlich, wenn man liebt: eine bestimmte Person um ihrer selbst willen oder doch, um es auf das Brechtzitat herunterzubrechen, das Bild, das man sich von ihr gemacht hat? Und was passiert, wenn die Person, die man liebt, eine andere sein will? So wie Laurence, der Literaturdozent, der eine wilde und zugleich verbindliche Beziehung mit der exaltierten Fred führt. Und eines Tages, sie will ihn zu einer spontanen Fahrt von Montreal nach New York verführen, hält er es nicht mehr aus, gegen sich selbst zu handeln und gesteht ihr, daß er sich gefangen im Körper eines Mannes fühlt. Das ist natürlich ein ziemlicher Schock für Fred, denn sie liebte ihn so, wie er war. Aber die wahre Revolution in dieser Liebesgeschichte, die mit epischem Atem einmal komplett die 90er durchmißt, ist nicht Laurences einsame Entscheidung, eine Frau zu werden, sondern die Entscheidung beider zusammenzubleiben. Wobei die Tragik daraus resultiert, daß die neuen Umstände auch Fred verändern werden.

Beziehungen sind eben eine dialektische Angelegenheit, und genau das spielt Xavier Dolan mit großer Bravour aus, ohne einen Augenblick aufzuhören, der Liebe an sich zu huldigen. Laurence und Fred kämpfen sich durch ein Meer aus Verurteilungen durch ihre Umgebung. Wobei Laurences Familie eine besondere Rolle spielt – Nathalie Baye darf sich als Mutter von ihrer eigenen Beziehung emanzipieren, um ihren Sohn neu zu entdecken. Dolan bleibt sich also seit I KILLED MY MOTHER in Grundmotiven treu, während er sich auf der bildlichen Ebene weiterentwickelt. Weiterhin zitiert er sich auch genüßlich durch die Film- und zunehmend durch die Kunstgeschichte. Das kann man als etwas eitel empfinden, aber er wird dabei eigentlich nie geschmacklos und vor allem, das beweist sein dritter Film, verknüpft sich bei ihm alles zu einem eigenen filmischen Universum, das nie verleugnet, eine Kunstwelt zu sein. Mode ist hier ebenso bedeutend wie Musik. Übrigens hat Dolan die wunderbaren Kostüme selbst entworfen.

Ein Händchen hat er aber auch für Schauspieler. Mit Melvil Poupaud, mindestens bekannt aus DIE ZEIT, DIE BLEIBT, und Suzanne Clément, für diese Rolle zurecht in Cannes ausgezeichnet, hat er zwei markige, unverbrauchte Gesichter gefunden. Und wenn aus ihren Mündern so pathetische Worte fallen wie „The Sky Is The Limit“, dann stört das überhaupt nicht, denn in diesem Universum sind sie einfach auch wahr.

Originaltitel: LAURENCE ANYWAYS

F/Kanada 2012, 159 min
FSK 6
Verleih: NFP

Genre: Drama, Liebe

Darsteller: Melvil Poupaud, Suzanne Clément, Nathalie Baye

Regie: Xavier Dolan

Kinostart: 27.06.13

[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...