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Lichter

Bedrückende Studie vom Verrat an der Menschlichkeit

Hans-Christian Schmid ist ein Erzähler der besonderen Art. Mit seinen Jugendbeobachtungen NACH 5 IM URWALD, 23 und CRAZY hat er sich als begnadeter Fabulierer des Unsteten, des Nervösen und mitunter in wohl dosierter Form auch des recht Romantischen zwischen Kindheit und Erwachsensein bewiesen. Nun aber entpuppt er sich mit diesem düsteren Meisterwerk, mit dieser traurigen Mär, welche völlig frei von jedweder verklärenden Leichtigkeit erzählt wird, als untrügbarer, unbestechlicher und - weil’s anders nicht sein kann - desillusionierter Überlieferer einer modernen Tristesse, die so groß ist wie das Leben, die so ungeschönt ist, daß es beim Hinschauen oft weh tut. So muß es auch Hans-Christian Schmid ergangen sein.

Sie alle wollen wenigstens ein ganz kleines Stück vom Bittermandelkuchen der Freiheit ergattern. Der Preis, den es dafür zu zahlen gilt, darf keine Rolle spielen. Für mühselig zusammengeklaubte Dollar will der Troß um Kolja, Anna und Dimitri dorthin, wo es 24 Stunden am Tag golden schimmert, in den Westen. Nur das Wichtigste wird mitgenommen, in Nacht-und-Nebel-Aktionen das schreiende Kind gestillt, den Schmugglern vertraut, und damit ist schon fast das Ende der Reise besiegelt: nach Ruckelfahrten im LKW werden die Ukrainer im Wald abgesetzt, immer den Lichtern sollen sie folgen, denn da ist Berlin. Was nicht annähernd die halbe Wahrheit ist, denn sie sind noch in Polen.

Es gilt den teils stark strömenden Grenzfluß zu überqueren, und da wäre man dann wenigstens in Frankfurt. Dem Frankfurt an der Oder natürlich, wo es leider nur ganz selten golden schimmert. Dort plagen sich verzweifelte Glücksjäger wie der Matratzenhändler Ingo an der ostdeutschen Kaufkraft ab, da wird Geschichte zwischen Ost und West neu geschrieben, ohne blühende Landschaften. Hier wartet keiner mehr auf die Weltverbesserer, hier wartet man allenfalls auf den Bummelzug zur Hoffnung. Das erfährt auch der junge, unbequeme Architekt Philip, dessen polnische Freundin Geldgebern und Bauherren nicht nur zur Übersetzung dient.

Hans-Christian Schmid erzählt von lausigen Schmugglern, von verzweifelten Familienvätern, die das Leben anderer riskieren, nur um dem eigenen Kind zu einem anständigen Kommunionskleid zu verhelfen, er erzählt vom Hoffen und Bangen, vom verzweifelten Festhalten am Strohhalm der Zuversicht, von Schuldgefühlen und vor allem von Verrat. Auch dem an der Ehre, an der Menschlichkeit. Und vor allem dafür muß man sich vor Schmids Leistung verneigen. Ohne Kalkül und dabei ganz präzise und unprätentiös vermag er es, von einer Gegend zu berichten, in der die Verzweiflung ihr Zuhause hat, Menschen zu begleiten, die ihre Haut zu Markte tragen, um anders zu leben, um verbittert zu erkennen, daß die Zeiten und die Menschen denkbar schlecht sind. Ungerecht waren sie schon immer.

Schmid hat sich mit diesem ergreifenden, ohne Sentimentalität dennoch zu Tränen rührenden Film zu einem der vielfältigsten und aufrichtigsten Filmemacher des Landes entwickelt. Das sollte honoriert werden.

D 2002, 102 min
Verleih: Prokino

Genre: Drama

Darsteller: August Diehl, Devid Striesow, Ivan Shvedoff, Sebastian Urzendowsky, Maria Simon, Zbigniew Zamachowski, Sergej Frolov

Regie: Hans-Christian Schmid

Kinostart: 31.07.03

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.