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L.I.E. – Long Island Expressway

Vom Mut zum Weitermachen - Meisterhafte Fabel über seltsame Freundschaft

Es ist diese verdammte Straße, der Long Island Expressway. Der 15jährige Howie steht balancierend auf der Brücke und sieht, wie die Spuren nach Osten und nach Westen führen. Howie weiß aber auch, daß sie in die Verdammnis führen. Alan J. Pakula hat’s hier erwischt. Howies Mutter auch. Der blasse Junge vermißt sie täglich. Bloß gut, daß er Gary hat. Auf seinen Vater kann Howie nicht zählen. Gary ist der Anführer einer Jungengang, die sich den Kick mit Einbrüchen in fremde Häuser holt.

Das ist auch beinahe die einzige Aufregung in diesem öden Kaff. Howie fühlt sich zu Gary stark hingezogen, ein Gefühl, das weit über Freundschaft hinausgeht. Eines Tages brechen sie in das Haus eines Typen ein, den Howie bald als Big John kennenlernen wird. Er erfährt von dem bizarren Verhältnis zwischen Big John und Gary. Für Kohle hatte der Junge Sex mit dem Alten. Diese Erkenntnis verwirrt Howie, sie fasziniert ihn aber auch. Immer wieder trifft er mit Big John zusammen, sieht Knaben in dessen Haus ein- und ausgehen. Mit Gary kann er darüber nicht mehr reden, denn der hat sich davon gemacht. Gary wollte raus, neu anfangen. Ohne Big John, ohne die Einbrüche, ohne die alte Zeit. Ganz neu. Allerdings auch ohne Howie. Howie vermißt seinen Freund. Als schließlich Howies Vater wegen illegaler Deals im Knast landet, reißt für den Jungen das letzte Ankerseil. Nur einer ist noch für ihn da. Big John. Freundschaftlich.

L.I.E. erzählt eine aufwühlende, eine sehr ehrliche und mutige Geschichte. Regisseur Michael Cuesta weiß vom strudelhaften Gefühl des Erwachens und Erwachsenwerdens zu berichten, von der schwindelerregenden Fahrt im Pubertätsriesenrad. Doch Cuesta kann und will viel mehr, denn zugleich räumt er mit eindimensionalem Moralempfinden auf. Selbst wenn Big John einer ist, der sich zu Knaben hingezogen fühlt, donnert Cuesta nicht mit platten Mahngebärden durch die Flure, sondern erzeugt beim Zuschauer gar Sympathien für dieses einsame und traurige Geschöpf, dieses selbstzweifelnde Wesen zwischen unzüchtigem Begehren und täglichen Anrufen seiner alten Mutter. Big John schämt sich oft dafür, wie er ist. Cuesta erzählt von diesem emotionalen Wrack mit großer Sensibilität, zeichnet ein aufrichtiges Bild des Alten, ohne ihn anzuklagen. Die Beziehung zwischen Howie und Big John ist viel zu wertvoll für den Jungen, viel zu komplex, um durch Worte und überholte Moralmeierei abgeschmiert zu werden. Hätte es Big John nicht gegeben, wäre Howie vom Brückengeländer auf den L.I.E. gesprungen.

So kann Howie, der mit einer herzergreifenden und in ihrer Natürlichkeit wohl einmaligen Performance durch das junge Talent Paul Franklin Dano gespielt wird, am Ende sagen: Diese Straße wird mich nicht kriegen. Und das ist für den Betrachter dieses modernen Märchens so erhebend, weil L.I.E. letztendlich ein hymnischer Ruf an die unbändige Kraft des Weitermachens ist. Mehr kann ein junger Mensch in so kurzer Zeit nicht verlieren. Aber Howie gewinnt dabei auch so unermeßlich viel. Die Freundschaft und das Vertrauen zu Big John läßt ihn reifen, macht ihn klüger und stärker, vor allem aber öffnet ihm diese Erfahrung das Tor zur Welt. Howie wird geben können. Er wird auch vergeben können. Welch euphorischer, dennoch pathosfreier, vielleicht aber auch nur hoffnungsschimmernder Kuß des Lebens!

Originaltitel: L.I.E.

USA 2001, 97 min
Verleih: Movienet

Genre: Erwachsenwerden, Schwul-Lesbisch

Darsteller: Paul Franklin Dano, Brian Cox

Regie: Michael Cuesta

Kinostart: 12.06.03

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.