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Liebe

Vorletzte Tänze – eine Leib- und Augenchoreographie für zwei Greise, eine Wohnung und tausend Ängste

Ganze Gesellschaften fühlen plötzlich die Gicht in ihren Knochen. Als sei man sich erst mit dem Einsturz der für die Ewigkeit gebauten Alters-pyramiden seiner Vergänglichkeit bewußt geworden, „entdeckt“ der mediale Diskurs das Sterben der Anderen und verhandelt es in dem ihm eigenen Ratgeberjargon. Nun, da das Thema mitsamt seinen Pflegestufen, Treppenliften, Würdefloskeln und Selbstbestimmungsaufrufen auf der Straße zu liegen scheint, hätte Michael Haneke eigentlich nur noch zugreifen müssen. Doch der große Unbequeme mit dem jede Banalität atomisierenden Kinoblick macht keine Filme von der Straße. Er verschafft sich vielmehr Zutritt zu privaten Behausungen und stürmt die Festungen, in denen wir uns sicher wähnen.

Die Wohnung von Anne und Georges erobert Haneke folgerichtig mit aller Staatsgewalt. Die Eingangstür wird von Feuerwehrmännern aufgestoßen, das Klebeband hastig von den Türrahmen gelöst, die Fenster eilig aufgerissen, um den bestialischen Gestank der Tragödie mit frischer Luft erträglicher zu machen. So beginnt die Geschichte um ein miteinander alt gewordenes Paar, das sich einer letzten Prüfung zu unterziehen hatte und nun nur noch Erinnerung ist: An Anne, die auf ihrem Bett aufgebahrt liegt, umflort von Blumen, und an Georges, der ihr Sterben zu Ende führte. Der Tatort ist besichtigt. Den Rest erledigt die filmische Spurensicherung.

Um die 80 sind die beiden, ihrem alten Beruf, der Musik, immer noch verbunden, einander zugetan mit jener routinierten Zärtlichkeit, der man ansieht, daß da vor Jahrzehnten einmal Leidenschaft war. Eine erwachsene Tochter, angemessen, aber nicht ganz glücklich verheiratet, ein großbürgerliches Zuhause mit Klavier, Möbeln, Lampen. Und dann ein existentielles Erschrecken: Anne, eben noch plaudernd am Frühstückstisch, versinkt für Minuten in einer Absence und ist weder mit gutem Zureden noch mit feuchten Tüchern zu einer Reaktion zu bewegen. Es folgen die Operation, die Heimkehr im Rollstuhl, das medizinische Spezialbett und markerschütternde Hilferufe, von denen die Pflegekraft sagt, man dürfe sie nicht persönlich nehmen.

Haneke hat das Knacken von Schlössern zum ästhetischen Programm erhoben. Ob das Ferienhausidyll in FUNNY GAMES, die schicke Pariser Eigentumswohnung in CACHÉ oder ein ganzes Dorf in DAS WEISSE BAND – immer machte ein schneidender Bilderwind die Mauern durchlässig. In LIEBE, seiner bislang vielleicht intimsten Reflexion über die sprichwörtlichen vier Wände als Schutzwall gegen hereinbrechendes Unheil und herausbrechende Scham, arbeitet er mit einer Studioarchitektur, die selbst zum Protagonisten wird. In scharfkantiger Klarheit, mit aller gebotenen Distanz ist diese Wohnung kartographiert – als gelte es, einen untergehenden Kontinent für das Weltgedächtnis zu vermessen. Ein langer Korridor, der in Georges’ bequemen Turnschuhen immer wieder durchschritten wird, symmetrische Raumanordnungen, die das Vorher im Nachher spiegeln, ritualisierte Kamera-positionen, die Überforderung und Verstörung zwischen der immer gleichen Trias aus Wasserhahn, Kaffeegeschirr und Fenster zum Hof nicht aus den Augen lassen.

Auf dieser Bühne entfaltet sich ein Realismus, der uns nicht den Anblick von alter Haut erspart, nicht die unheimliche Stille, nicht die Windeln, die Schnabeltasse, das Ausspucken und schon gar nicht den Zorn. Und doch ist er so wunderbar anders als all die erschlagenden Wirklichkeitsexplosionen, die man mit irgendwelchen Authentizitätshebeln auslöst. Haneke findet eine Form der Wahrhaftigkeit, in der auch Platz für Poesie ist, für eine verirrte Taube etwa, für Traum- und Erinnerungsbilder oder für einen gemeinsamen Tanz. So zumindest sieht es manchmal aus, wenn Georges seine Anne aus dem Rollstuhl hebt und mit aller Kraft hält – ein verzweifelter Pas de deux ohne Musik, vorgetragen von Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant, die ihrem Legendenstatus hiermit alle Ehre machen.

Originaltitel: AMOUR

F/D/Österreich 2012, 127 min
FSK 12
Verleih: X Verleih

Genre: Drama

Darsteller: Emmanuelle Riva, Jean-Louis Trintignant, Isabelle Huppert, Alexandre Tharaud

Stab:
Regie: Michael Haneke
Drehbuch: Michael Haneke
Kamera: Darius Khondji

Kinostart: 20.09.12

[ Sylvia Görke ]