Originaltitel: MANCHESTER BY THE SEA

USA 2016, 138 min
FSK 12
Verleih: Universal

Genre: Drama

Darsteller: Casey Affleck, Michelle Williams, Kyle Chandler, Lucas Hedges

Regie: Kenneth Lonergan

Kinostart: 19.01.17

20 Bewertungen

Manchester By The Sea

Springflut und ruhiger Fluß – episches Drama in erzählerischer Autonomie

Was für ein Kerl, dieser Lee Chandler. So viel Stoizismus, so viel Verschlossenheit. Als Hausmeister betreut er vier Apartmentblocks in Boston, verrichtet still seinen Job, hockt still in seiner Kellerwohnung. Und weder die freundlichen noch unfreundlichen Mieter, mit denen Lee zu tun hat, weder die Worte der Sympathie oder Zuneigung noch die der Verbitterung und Gehässigkeit, die er immer wieder zu hören bekommt, scheinen ihn irgendwie etwas anzugehen. Als wäre Lee innerlich der Welt längst abhanden gekommen, geht er seinen Tag-für-Tag-Lebensweg. Ganz so, man spürt es, als trüge er ein Kreuz nach Golgatha.

Doch die Welt, sie läßt Lee dann doch nicht los. Ein Anruf kommt, aus Manchester-By-The-Sea, dem Ostküstenstädtchen, aus dem Lee stammt, und dem er einst aus gutem Grund den Rücken kehrte. Lees herzkranker Bruder Joe liegt dort im Sterben. Und ohne etwas von seinem Stoizismus abzulegen, ohne nur den geringsten Riß in der Fassade der Unnahbarkeit ahnen zu lassen, begibt sich Lee nach Manchester. Sein Golgatha am kalten Atlantik.

Kenneth Lonergan schrieb unter anderem das Drehbuch für Martin Scorseses GANGS OF NEW YORK und drehte einen Film, der MARGARET heißt, und der eins jener Werke ist, an denen Hollywood wieder mal ein Exempel der Ignoranz statuierte. Ein Film, dessen Fertigstellung drei Jahre dauerte, auf die fünf weitere eines Rechtstreits zwischen Regisseur und Studio folgten, bis dann eine von ursprünglich 180 auf 150 Minuten gekürzte Fassung des Streifens das Licht der wenig interessierten Öffentlichkeit erblickte. Was hier alles jetzt nur insofern relevant ist, als daß es gut ahnen läßt, mit wem man es zu tun hat, wenn man es mit Lonergan zu tun hat: Mit einem Erzähler, der darauf beharrt, seine Geschichten so zu erzählen, wie eben nur er sie erzählen kann.

Nämlich mit jener großen, stillen, gezeitenhaften Geste eines künstlerischen Stoizismus’, der auf Langsamkeit und Nuancen, auf Seitenblicke und Geduld beharrt. Was sich jetzt bei Lonergans neuem Film MANCHESTER BY THE SEA schon in der Exposition zeigt. Also im Beobachten dieses Lee Chandler, Gottes einsamsten Hausmeisters. Ein Schmerzensmann aus gutem, das Herz zerreißendem Grund, wie sich zeigen wird. Aber das hat noch Zeit. Erst einmal kehrt Lee nach Manchester zurück – zu spät, um den Bruder noch lebend anzutreffen. Und konfrontiert mit dessen letztem Wunsch: die Vormundschaft für Joes 16jährigen Sohn Patrick zu übernehmen.

Nichts, wozu Lee weniger bereit wäre. Nichts, was er so einfach von sich weisen kann. Seinen Bruder nämlich hat Lee immer geliebt, wie auch dessen Sohn– doch war das in einem anderen Leben, in jenen Tagen vor dieser Tragödie damals, an der Lee Schuld trägt, ohne Schuld zu haben, und auf die die Handlung zutreibt in soghaften, ruhigen Rückblenden.

Daß Lonergan dabei weniger die Katastrophe, die Tragödie als solche interessiert, zeigt sich dann allein schon, wo er sie im Handlungsgefüge plaziert. Was jede konventionelle (Hollywood-)Dramaturgie mit Blick auf den möglichst lang nachhallenden Emotionseffekt fürs Finale aufheben würde, zeigt sich hier weit davor. Als eine Springflut an Leiden und Schockwellen, die dann zurückbranden in den ruhigen Erzählfluß.

Einen zu ruhigen? Manchmal, ja. Aber Lonergan erzählt eben, wie er erzählt. Und die Ruhe, mit der er das macht, ist eine der inneren Kraft. Eine Kraft, die den Film nicht nur trägt, sondern von der er auch erzählt.

[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.