Originaltitel: MÆND & HØNS

DK/D 2014, 104 min
FSK 12
Verleih: DCM

Genre: Tragikomödie, Schräg, Satire

Darsteller: Mads Mikkelsen, David Dencik, Nikolaj Lie Kaas, Nicolas Bro

Stab:
Regie: Anders Thomas Jensen
Drehbuch: Anders Thomas Jensen

Kinostart: 02.07.15

8 Bewertungen

Men & Chicken

Grandiose Gedankenspiele eines stolzen Vaters

Wehe, wenn sie losgelassen! Das gilt grundsätzlich für viele von uns, speziell ist hier Anders Thomas Jensen gemeint – als Drehbuchautor langjähriger Partner von Susanne Bier, außerdem beispielsweise an THE SALVATION oder DIE HERZOGIN beteiligt. Ein geerdetes Œuvre inklusive Hang zum Drama also, mag man meinen, aber darüber hinaus gibt’s ja Jensens Skript-und-Regie-Alleingänge, in deren Verlauf das grotesk verdrehte Spielkind aus dem wilden Mann entflieht; sei es beim Kannibalismus-Komödienstück DÄNISCHE DELIKATESSEN oder seinem bisherigen Meisterwerk ADAMS ÄPFEL. Moment! „Bisheriges Meisterwerk“? Ja, genau, denn MEN & CHICKEN legt noch eine Schippe drauf.

Einiges ändert sich allerdings nie, weshalb wir erneut Mads Mikkelsen, frisurtechnisch schwer benachteiligt und daher kaum zu identifizieren, begrüßen. Er mimt Elias, einen zwanghaft masturbierenden, ständig alpträumenden Nichtsnutz, welcher gerade sein Date richtig rundmacht, während Papa im Sterben liegt. Auch Bruder Gabriel verpaßt des Vaters letzte Worte; wenigstens kann später übermittelt werden, daß die Söhne adoptiert sind. Darob arg entsetzt, suchen die zwei Geschockten ihren biologischen Erzeuger, die Spur führt zu einer poetisch „Ork“ benannten Insel.

Dort angekommen, kriegt Gabriel zunächst einen ausgestopften Schwan über den Schädel gezogen, sollte indes froh sein, schließlich hätte es schlimmer kommen können, falls es Biber oder Fuchs gewesen wären, beides Teile des tatsächlich urkomischen Running Gags mit Taxidermie-Hintergrund. Den Angriff führte, wie sich schnell offenbart, der jetzt neu kennengelernte Halbbruder. Und wo einer ist, lauern weitere! Bloß der Prolog einer sukzessive aufgedeckten, komplexen Familiensaga, die eine ganze Latte Leichen im Keller stapelt ...

Anfangs scheint es Jensen ergo darum zu gehen, auf fast abartig witzige, stellenweise tief in schmutzige Tümpel abtauchende Art ein Schreckgespenst der Prägung „Bestimmte Leute dürften sich besser nicht fortpflanzen!“ zu beschwören, was perfekt gelingt und für ausgelassenste Stimmung im Saal sorgt. Doch wie man primär durch ADAMS ÄPFEL weiß: Humor um des puren Gelächters willen ist Jensens Anliegen nicht. Und so implementiert er hinterrücks und beiläufig ein vorerst wieder ziemlich gestörtes Humandach – etwa dann, wenn männliche Finger den Mund einer verhuschten Dame nahezu zärtlich von erbrochenen Essensresten befreien. Wie man bald parallel erfährt, giert jeder der fünf Außenseiter verzweifelt nur nach einem winzigen Stückchen Glück, nach Zuneigung und dem besonderen Menschen. Ungerührt führt Jensen jenen nun begreiflichen Wunsch ad absurdum, opfert ihm beispielsweise eine laktoseintolerante, gehbehinderte Seniorin.

Schleichend bricht da verstärkt Finsternis herein, leiht die Handlung manches Detail völlig natürlich vom Gothic Horror, bis Jensen die humorige Kuscheldecke irgendwann ruckartig komplett wegzieht – und Abgründe enthüllt, derart makaber und schwarz, daß kein hoffender Lichtstrahl sie schüchtern erhellt. Jedes Puzzleteilchen findet plötzlich einen passenden Platz, alle vormals profundes Unverständnis bedingenden Kleinigkeiten – wieso ist der von einer Eule optisch veredelte Teller am wenigsten wert, wohingegen der Hund Jackpot bedeutet? – ergeben wortwörtlich unglaublichen Sinn. Und Jensen grinst vermutlich haifischartig beim Gedanken daran, hat er die Kinobesucher doch höchst erfolgreich erst an der Nase herumgeführt und schließlich mit selbiger direkt hinein in seinen diabolischen, fürchterlich klugen Ideenmorast gestoßen. Wofür man ihm nichts als Dank zollen möchte.

Zumal Jensen wie selbstverständlich außerdem die filmische Königsdisziplin beherrscht, namentlich lebendige Charakterzeichnung und Transport der Figuren in Richtung Zuschauer. Ohne Frage: Obgleich seine Protagonisten degenerierter denn je scheinen, liebt er sie ähnlich einem stolzen Vater die Sprößlinge, glühend heiß und überaus innig. Erkennbar nicht allein, aber eben auch am verblüfften Publikumsstaunen angesichts einer ihnen – und uns – geschenkten Pointe voller Herzblut.

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...