Originaltitel: MIA MADRE

I/F 2015, 106 min
FSK 12
Verleih: Koch Media

Genre: Tragikomödie, Poesie

Darsteller: Margherita Buy, John Turturro, Giulia Lazzarini, Nanni Moretti, Beatrice Mancini

Regie: Nanni Moretti

Kinostart: 19.11.15

6 Bewertungen

Mia madre

Ein atemberaubendes posthumes Filmdenkmal als kathartische Erfahrung

Kann man sagen, daß Nanni Moretti nunmehr seine Verlust-Trilogie abgeschlossen hat? Wahrscheinlich: 2001 kam DAS ZIMMER MEINES SOHNES (Regisseur, Hauptdarsteller). 2008 STILLES CHAOS (Hauptdarsteller). Und jetzt MIA MADRE (Regisseur, Nebendarsteller). 2001 ging es um den Tod eines Kindes, 2008 starb die Filmgattin. Zwei Meisterwerke, und dennoch übertroffen von MIA MADRE: Hier liegt Margheritas Mama Ada im Krankenhaus, Genesung quasi ausgeschlossen.

Wie in seinen besten Zeiten erzählt Moretti da spürbar autobiographisch, vertraut Margherita Buy (welche noch einen Hauch intensiver agiert als sonst gewohnt) die Rolle der Margherita an, einer ziemlich herrischen Regisseurin. Moretti spielt ihren Bruder und verarbeitet eigene Geschichte(n). Oder besser: Er läßt diese auferstehen. Ohne Erklärungen, durch pure Beobachtung. Und wer selbst schon einen lieben Menschen über längere Zeit hinweg gehen lassen mußte, findet sich stets wieder: in Margheritas Leugnung der Tatsachen, dem verzweifelten Willen, die berühmte „zweite Meinung“ einzuholen. Ihrem Wunsch, für die Mama zu sorgen, das Leid zu verringern, woraus sich extreme Belastung generiert, bis Margherita an Grenzen stößt. Einmal schreit sie die Mutter an, aufzustehen und zu laufen: „Nur drei Schritte!“

Daß Margherita nicht bereits viel früher psychisch zusammenklappt, verdankt sie dem ablenkenden Job, einem neuen Film, obwohl der an Bord geholte Star-Mime, ein exzentrischer Geck, eigentlich genauso zum Energieräuber taugt. Diese zweite Ebene schenkt Moretti Gelegenheit, nach außen Lockerheit und Spaß einzubringen, satirisch gerade Hollywood vorzuführen, hintergründig allerdings aufzuzeigen, wie Margherita bislang das Zwischenmenschliche vernachlässigte. Nicht umsonst geht Tochter Livia bei Problemen lieber zur Oma. Und Ada nahm klaglos die Aufgabe an, alle zusammenzuhalten, einen familiären Ruhepol zu bilden, der nun verglüht. Vorher indes Margheritas Augen öffnet: Wo sind künftig richtigere Prioritäten zu setzen?

Bezwingend konsequent und in kühler Kritikform unmöglich erfaßbar dreht Moretti die Spirale enger, hin zur Akzeptanz des Unausweichlichen. Und selbst dann vermeidet er, seiner Linie untreu zu werden, niemand wird vom explosiven Weinkrampf geschüttelt, keiner gräbt alte Stories aus oder bittet um Absolution. Es gilt zu warten, auf das logisch Folgende, den ungeachtet aller Vorbereitung natürlich schrecklichen Anruf, in dessen Konsequenz ein jede Chance zur Verarbeitung negierendes Unmaß an organisatorischen Erledigungen lauert. Und sich, so schwer es einzugestehen ist, eben häufig gleichsam dennoch Erleichterung offenbart, welche nicht humane Kälte oder Liebesmangel bedeutet.

Allerspätestens mit der finalen Szene, dem letzten Dialog und Blick zwischen Ada und Margherita, so simpel wie wahr, leise wie nachhallend, kurz wie von unglaublicher menschlicher Größe, hat es Moretti dann endgültig geschafft: Er reißt seinem Publikum das Herz in tausend Stücke, die Tränen fließen unaufhaltsam. Wir dürfen dankbar sein dafür, schließlich lösen sie sicherlich emotionale Verhärtungen und ermöglichen bestenfalls einen – wie auch immer gearteten – Neubeginn. Vielleicht spülen sie gar sorgsam gehütete Schuldgefühle oder tief verkapselte, nichtsdestoweniger brennend pulsierende Schmerzreste fort, machen Platz für aufgefrischte Erinnerungen, Selbstbesinnung und Mut zum Voranblicken. Ada würde es jedenfalls so wollen.

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...