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Nicht alles schlucken

Wieviele Pillen braucht der Mensch?

Ein Stuhlkreis in einem anonym wirkenden Raum. Eine karge, aber klug gewählte Therapie-Szenerie für diesen Film. Menschen sitzen zusammen. In den meisten Gesichtern liegen Spuren tiefer Einsamkeit und Verzweiflung. Die Kamera verweilt. Aber nie enthüllend, sondern man spürt einen respektvollen Blick. Einer fängt an zu sprechen, und es entsteht ein Sog. Man wird hineingezogen in Geschichten, die alle mit psychischen Krankheiten zu tun haben und lange Leidenswege beschreiben. Es sind Erkrankte, Angehörige und Ärzte, Pfleger, welche die Regisseure Jana Kalms und Piet Stolz, selbst Nervenarzt und Psychoanalytiker, auf Augenhöhe zu Wort kommen lassen. Keiner wird gefragt, benannt oder in eine „Kategorie“ eingeordnet.

Nur durch das Gesagte erfährt man auch, auf welcher Seite sie stehen. Fast könnte man in Täter und Opfer einteilen, folgt man der Eigenaussage einer Ärztin, denn was hinter den geschlossenen Türen der Einrichtungen bis heute praktiziert wird, scheint immer noch hauptsächlich darauf abzuzielen, ruhigzustellen, gleichzuschalten und zu betäuben. Denn das wird immer wieder gesagt, gewünscht, fast erfleht von denjenigen, die unter Psychosen leiden: sein zu dürfen, man selbst vor allem, gewollt zu sein, einen Wert zu haben. Stattdessen geraten die Patienten in ein System aus Zwang und Abhängigkeit, denn jede Medikamentengabe verstärkt auch die Abhängigkeit, nicht mehr ohne leben zu können. Die Medikamente verwandeln die Patienten wiederum in genau jene Zerrbilder (sabbernde, verlangsamte, dumpfe „Zombies“), die bestätigen, daß da jemand krank ist und Medikamente braucht. Ein Teufelskreis, dem kaum zu entkommen ist.

„Ich kenne mich nur noch mit Medikamenten, ich kenne den Unterschied nicht mehr“, sagt Adam, ein schätzungsweise knapp 30jähriger Mann. Seine Mutter berichtet von einem Gespräch mit einem Arzt, den sie bat zu sagen, ob Adam jemals wieder gesund werden wird. „Adam ist nicht krank“, sagte dieser, „Adam ist nur Adam.“ Es gibt also auch diese Ansätze. Zuhören sei gefragt, sagt ein anderer Arzt, den Patienten als Menschen wirklich wahrnehmen und „wissen wollen, was ist dir passiert.“ Es ist immer eine Herausforderung zu leben. Für psychisch Erkrankte, oder sagen wir besser Menschen, die aus der Norm einer Mehrheitswahrnehmung herausfallen, braucht es noch mehr Mut, sich dem Leben zu stellen. Dafür wirbt dieser Film und berührt dabei sehr tief.

D 2014, 86 min
FSK 6
Verleih: Credo

Genre: Dokumentation

Regie: Jana Kalms, Piet Stolz, Sebastian Winkels

Kinostart: 28.05.15

[ Susanne Schulz ]