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Ostpunk! Too Much Future

Zwischen Pogo, Politik und Poesie

Als vor 30 Jahren die ersten Punks im Westen dem Establishment ihr wütendes "No Future!" entgegenschleuderten, reagierten sie auf Konsumterror, Karrierezwang und konservative Politik. Zehn Jahre später waren zerrissene Jeans, Totenköpfe und Sicherheitsnadeln zur Mode geworden: Punk Has Eaten Itself.

In der DDR prallten die Punks auf eine waschechte Diktatur und wurden - obwohl sich die meisten anfangs als "nicht-politisch" verstanden - umstandslos zu Staatsfeinden erklärt. Ihre persönliche Verweigerung des durchstrukturierten DDR-Alltags machte aus ihnen Saboteure der Staatsräson - dabei wollten sie eigentlich nur harte, schnelle Musik machen und als "Einzelwesen" wahrgenommen werden. Auch im Osten zentrierte sich die Punkbewegung um unzählige Bands, lebte in Proberäumen und Abrißhäusern und war teilweise eng verknüpft mit der Kunstszene. Anders als in Düsseldorf, New York oder London blieb Ostpunk aber - zwangsläufig - der DIY-Maxime treu, es gab einfach keine Doc Martens, UK-Subs-LPs oder knallige Haarfarben zu kaufen. Und so behalf man sich mit tausendfach überspielten Tapes, farbiger Tusche und sehr viel Phantasie. Wenn Oma dann aus dem Westen tatsächlich die sündhaft teuren Docs mitbrachte, fühlte man sich schon fast wie ein Plastic (= Snob).

Die Stärke von OSTPUNK! TOO MUCH FUTURE liegt darin, daß Carsten Fiebeler seinen sechs Gesprächspartnern genug Raum zum Erzählen gibt. Ihre Geschichten, verwoben mit historischen Super-8-Aufnahmen, zeigen, wie sich aus einer erst intuitiven Ablehnung des Systems ein politisches Bewußtsein entwickelte. Je länger man den heute 30- bis 40-Jährigen zuhört, von denen die meisten inzwischen ein recht bürgerliches Leben führen, desto mehr spürt man den Sog der Sehnsucht nach dieser absoluten Gegenwärtigkeit. Obwohl sie alle einen hohen Preis bezahlten, weil sie ins Visier der Stasi gerieten, inhaftiert wurden oder monatelang in der Psychiatrie verschwanden, sprechen sie von dieser Zeit ohne Zynismus. In der schönsten Szene erinnern sie sich an die alten Songtexte.

Nach und nach kommen die eigenen, lang vergessenen Worte wieder an die Oberfläche, plötzlich scheinen auch die Wut und die unbändige Kraft von damals wieder da zu sein. Keine Frage: Punk ist nicht tot, sondern schlummert und wartet auf den Weckruf.

D 2007, 93 min
FSK 12
Verleih: Neue Visionen

Genre: Dokumentation, Musik

Regie: Carsten Fiebeler, Michael Boehlke

Kinostart: 23.08.07

[ Luc-Carolin Ziemann ] Carolin hat ein großes Faible für Dokumentarfilme, liebt aber auch gut gespielte, untergründige Independents und ins Surreale tendierende Geschichten, Kurzfilme und intensive Kammerspiele. Schwer haben es historische Kostümschinken, Actionfilme, Thriller und Liebeskomödien ... aber einen Versuch ist ihr (fast) jeder Film wert.