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Paradies: Liebe

Jenseits von Ottakring – fremde Strände, schwarze Träume und (k)ein Rettungsring

Ulrich Seidl, Austrofatalist, Filmextremist und Entblößungsfetischist, bleibt wohl auf ewig unversöhnt mit der Schäbigkeit des Stinknormalen, mit dem Unzulänglichen mitten unter uns (oder doch wenigstens in der Nachbarschaft). Sein Fallbeil kreist über Wohnverliesen, Reihenhaussiedlungen und verwaisten Parkplätzen. Und das selbst in der Improvisation so formvollendet wie bei einem Samurai. Sowohl im Dokumentarischen als auch im Fiktionalen bespielt er sein Publikum mit verdichteten, säuberlich aus den gesellschaftlichen Mittel- und Unterschichten herausgeschlagenen Wirklichkeitsfetzen, einer auf monströse Maße skalierten Banalität, vor der die Augen und gelegentlich auch der Magen zurückzucken.

Nun hat er sich das Paradies vorgenommen – freilich ein waschechter Seidl-Unort, an dem die Früchte sämtlich angefressen sind. Teresa ist zum Naschen gekommen. 50 Jahre auf dem Buckel, Traurigkeit an den Hacken und Schwimmring auf den Hüften. Rette sie, wer kann. Gleich hinter Wien scheint sie ihre Einkaufsbeutel abgestellt zu haben und einfach bis Kenia weitergewatschelt zu sein: zur Vierzehntagebefreiung von der phlegmatischen Tochter, zum Jahresurlaub mit Halbpension und der Lizenz zur Selbstverwirklichung. Die Inge und ihre Freundinnen haben schon mal angefangen mit dem Obschlecken und Einibeißen in die Neger. Hemmungen und Unterhosen sind gefallen, wie weggefegt das Grübeln über hängende Brüste, abgesunkene Ärsche und die richtige Intimfrisur. Die mögen es hier ursprünglich, weiß die Inge. Hakuna Matata, Mami, koa Problem. Vor dem Hotel warten sie schon, all die gut gebauten und glanzhäutigen Mungas, Gabriels oder Salamas. Erst bei der Zigarette danach fällt ihnen ein, daß sie eigentlich zu viele Sorgen haben, um ihre schnell entflammte Liebe von Herzen zu genießen. Irgendeine verarmte Cousine braucht immer Geld fürs Krankenhaus, der Bruder auch, der Schwager, die Großmutter und der böse Wolf …

Nur kurz läßt Seidl die aus Wien mitgebrachte Naivität als Entschuldigung gelten. Teresa, deren Name vielleicht nicht ganz zufällig an eine Missionarin erinnert, lernt schnell, wie der Deal in den Urlaubskolonien funktioniert. Das Augenverschließen und Ohrenzuhalten gehören zu den Vertragsbedingungen, gell, Msabu? Wer die Reisekasse hat, bestimmt, wie der Busen zu streicheln ist („Not gleich two!“). Wer den Schwanz trägt, sagt an, wann der Traum vom voraussetzungslosen Begehren endet. Wie alle Seidl-Filme hat auch dieser Körper-Pfunde, mit denen die Machtverhältnisse abgewogen werden, Fleisch, auf dem sich der soziale Status als Hämatom oder Bindegewebsdelle oder Stützstrumpfrand abdrückt, wovon Herr Walter aus HUNDSTAGE sicher ein Lied singen könnte. Auch diesen ersten Teil einer Paradies-Trilogie durchweht Stallgeruch: aus halboffenen Klotüren, ungewaschenen Achselhöhlen und nachlässig dialektbreiten Mündern.

Und wie gehabt durchwabert er aufgeräumteste, gewählteste Kameraeinstellungen. Irgendwo in diesen Bildern von breiten Hintern auf filigranen Barhockern vor zebragemustertem Wanddekor liegen die Gründe dafür, daß man PARADIES: LIEBE sogar für eine Komödie halten könnte.

Österreich/D/F 2012, 121 min
FSK 16
Verleih: Neue Visionen

Genre: Drama, Erotik

Darsteller: Margarethe Tiesel, Inge Maux, Peter Kazungu, Carlos Mkutano, Gabriel Nguma Mwarua

Stab:
Regie: Ulrich Seidl
Drehbuch: Ulrich Seidl, Veronika Franz
Kamera: Wolfgang Thaler, Ed Lachman

Kinostart: 03.01.13

[ Sylvia Görke ]