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Picco

Ambivalentes Protokoll eines Gewaltprozesses

Vier Kerle, Zellengenossen, in einer Jugendvollzugsanstalt. Auf 16 Quadratmeter gepferchte Gruppendynamik und Hackordnung. In der steht Kevin, der Neue, der „Picco“, ganz unten. Schnell und brutal lernt er seine ersten Lektionen. Lektionen, die in Variationen immer nur den einen Umstand wiederholen: Diese Welt hier drin strukturiert sich nur durch Gewalt und Machtspiele, unterteilt sich ausschließlich in Opfer und Täter. Und Kevin will kein Opfer sein. Kevin lernt diese seine Lektionen, paßt sich der Situation an. Geht den Weg vom Opfer zum unbeteiligten Zuschauer zum Mittäter. Ein Weg, der in einem dumpfen Gewaltexzeß münden wird.

Im Jahre 2006 folterten Insassen der JVA Siegburg einen Mithäftling in ihrer Zelle stundenlang zu Tode. Regisseur Philip Koch machte einen Film daraus, der auf diversen Festivals lief und einen raunenden Kritiker-Chorus hervorrief: PICCO ist unerträglich intensiv und an die Grenzen gehend, mit schauspielerischen Extremleistungen, bedrückender Atmosphäre und nachhaltiger Wirkung. Das ist alles richtig. Und doch: Es ist gerade ob all dieser „Richtigkeiten“ etwas an PICCO, das nicht wirklich paßt. Paradoxerweise, weil alles paßt. Weil alles so ist, wie man es sich vorstellt, sich erwartet von einem Film, der in menschliche Abgründe hinabsteigt und dabei den Hang zum Spekulativen, der ja schon in diesem Sujet lauert, mit nüchtern protokollierendem Ton zu begradigen versucht. Auf die niederen Instinkte der Sensationslust zielt PICCO keinesfalls.

Nur: Es bleibt spekulativ. Das Hinschauen, das vielleicht mutig und konsequent ist, es ist auch – zwangsläufig – voyeuristisch. Und das, wieder paradoxerweise, gerade auch in der Geste, mit der der Film hin und wieder auch mal den Blick dezidiert abwendet von den Brutalitäten. Die eben just dadurch an Wirkung gewinnen – genau durch diese geschickt austarierte Mischung aus „Zeigen“ und der „Vorstellung überlassen.“ Ja, das ist wirkungsvoll und „unerträglich intensiv.“

Nur artikuliert sich genau in der kunstfertigen Kunstlosigkeit, mit der PICCO erzählt (besser mit der der Film „protokolliert“), das Kalkül inszenatorischer Eitelkeit. Man mag das in Anbetracht des Sujets als fragwürdig, gar deplaziert empfinden, nur daß derlei „Eitelkeit“ eben auch zur Grundausstattung eines zumal guten Regisseurs gehört. Koch ist ein solcher. Sein PICCO ist vor allem eins: ambivalent.

D 2010, 105 min
FSK 16
Verleih: Movienet

Genre: Drama

Darsteller: Constantin von Jascheroff, Frederick Lau, Martin Kiefer

Regie: Philip Koch

Kinostart: 17.02.11

[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.