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Sein und Haben

Stilles Wunder in Dokumentarbildern

Jean Luc Godard behauptete kühn: "Film - das ist 24 mal Wahrheit in der Sekunde!"

Dies ist Dekaden her, und die Allgegenwart einer trügerischen, weil konstruierten Transparenz des Lebens rückt die Definition eines Wahrheitsbegriffes zunehmend in den Bereich des Unmöglichen. Was jedoch gutes Kino nach wie vor ausmacht, ist das ambitionierte Streben nach Ehrlichkeit. Es ist anzunehmen, daß diese Absicht am offenkundigsten Ausdruck findet in Filmen, die sich ihrem Sujet dokumentarisch nähern. Dieses Arbeitsfeld erfordert heutzutage Geduld und unstillbaren Tatendrang, unerbittlicher denn je sucht das Publikum nach eskapistischer Unterhaltung.

"Alles, was ihr euch zu sagen habt, könnt ihr jetzt aussprechen. Ich bin dabei. Jetzt könnt ihr alles sagen." Lehrer Georges Lopez hat Ausdauer mit seinen Schülern. Julien und Olivier haben sich wieder einmal geprügelt, doch statt einfach Strafen aufzubrummen, möchte Georges das Problem ein für allemal aus der Welt schaffen, mit Worten. Er leitet eine Schulklasse, wie sie in Frankreich vielerorts noch üblich ist. In einem Raum unterrichtet "Maître" Lopez mehr als ein Dutzend Kinder vom Vorschulalter bis zur 5. Klasse und hat den bunten Haufen mit einer faszinierenden Mischung aus Autorität und Feingefühl im Griff. Wir beobachten den Wechsel der Jahreszeiten, nehmen an einem Ausflug teil, und schließlich stehen die Sommerferien vor der Tür. Zeit, Abschied zu nehmen.

Als im Herbst 2002 SEIN UND HABEN in die französischen Kinos gelangte, empfing ihn das Publikum mit offenen Armen und verhalf ihm zu ungeahntem Erfolg. Wie oft passiert es schon, daß man einen Film nicht nur sehen und hören darf, sondern mit ganzem Herzen fühlt. Dieser stille Film ist mehr als eine Dokumentation über eine Schulform, die in Deutschland der Vergangenheit angehört. Er ist Zeugnis eines wunderbaren zwischenmenschlichen Umgangs. Der Respekt, mit welchem Lehrer Lopez seinen Schützlingen begegnet, aber auch das ehrfurchtsvolle Vertrauen der Kinder in diesen stillen Mann wird einfach nicht kalt lassen.

Sicherlich ist der Anspruch der Vollständigkeit nicht gegeben, wenn wir ein Schuljahr in Filmlänge absolvieren. Doch mehr muß man nicht sehen, um zu verstehen, daß Nicholas Philiberts sensibles Werk ein Vorbild sein kann. Für andere Filmemacher und für uns Zuschauer.

Originaltitel: ÊTRE ET AVOIR

F 2002, 104 min
Verleih: Ventura

Genre: Dokumentation

Regie: Nicholas Philibert

Kinostart: 16.01.03

[ Roman Klink ]