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Shahada

Schwankende Glaubenssäulen

„Ich muß gar nichts außer schlafen, trinken, atmen und ficken“, gibt die Elektropunkcombo „Großstadtgeflüster“ diesem Film mit auf den Weg. Er beginnt in einem Berliner Club, zu dem sich Maryam und ihre Freundin mit einem großmäulig-vulgären Charmeangriff Zugang verschafft haben. Er führt auf das Klo hinter der Tanzfläche, wo Maryam eine heimliche Abtreibung zu Ende bringt und dann nicht weiß, wohin mit dem blutigen Bündel Beinahemensch. Er führt weiter nach Hause, wo Maryams Vater Vedat, Imam einer muslimischen Gemeinde, sich Sorgen macht. Nicht, weil seine Tochter die Berliner Nacht unsicher macht, sondern weil sie plötzlich so unversöhnlich für Allahs Gebote eifert. Und weil ihre Blutungen gar nicht mehr aufhören wollen ...

Es ist die stärkste von Burhan Qurbanis drei episodisch verwobenen Geschichten, die gelegentlich in Vedats Moschee halt machen, nur um gleich wieder in Berliner Wohnungen und Seitenstraßen zu verschwinden. Sie wickeln sich um die erste Säule des Islam, das Glaubensbekenntnis „Shahada“, und schlingen sich in fünf Kapiteln um die Füße ihrer deutsch-muslimischen Protagonisten, die zwischen tief empfundener Religiosität und noch tiefer empfundenen Gefühlen lebens- und glaubensgefährlich ins Straucheln kommen. Samir, praktizierender Muslim nigerianischer Abstammung, fällt über den Großmarktkollegen Daniel, der unkeusch durch seine Nacht- und Tagträumereien wandelt. Ismail, bilderbuchmäßig integrierter Türke im Polizeidienst, stürzt in eine von Schuld und Sühne befeuerte Affäre mit der „illegalen“ Bosnierin Leyla.

Burhan Qurbani hat ihnen keinen Sicherheitsgurt angelegt, ebenso wenig wie sich selbst. Denn gerade die Unsicherheit, die Suche nach Halt zwischen Dancefloor und Gebetsteppich, ist sein Thema. Der frisch gebackene Film-akademieabsolvent bewegt sich mutig in einer schwankenden Architektur aus Glaubenssäulen, deren Tragfähigkeit im deutschen Hier und Jetzt immer wieder erprobt sein will. Und doch ist Qurbanis Film nichts weniger als ein theoretischer Vortrag über religiöse Statik geworden. Er hat Leidenschaft für das Erzählen in Bildern und Ellipsen, er brennt für seine Figuren und vertraut seinem Ensemble. Und er kommt trotz aller Schwere auf Flügeln daher – getragen vom Beifall der jüngsten Berlinale.

D 2010, 90 min
FSK 12
Verleih: 3 Rosen

Genre: Drama, Episodenfilm

Darsteller: Maryam Zaree, Jeremias Acheampong, Carlo Ljubek, Sergej Moya, Vedat Erincin, Anne Ratte-Polle

Stab:
Regie: Burhan Qurbani
Drehbuch: Burhan Qurbani

Kinostart: 21.10.10

[ Sylvia Görke ]