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The Tree

Von realer Trauer auf märchenhaftem Grund

Man wird urplötzlich herausgerissen. Aus einer Harmonie, einem Bild der Liebe und des Friedens. Vater und Tochter auf dem Heimweg. Nach getaner Arbeit, inmitten einer sympathischen Gaubelei: Sie will seine Uhr, er möchte sie ihr erst später geben, wenn sie groß ist. Und doch, als hätte er es geahnt, ist man zwei Minuten später versucht zu psychologisieren, schenkt er ihr die Uhr, noch viel zu groß für das kleine Handgelenk. Er wird Simone keinen Tag älter, keine Erfahrung reifer und eben kein Stück größer mehr sehen. Er stirbt. Einfach so. Am Steuer des Trucks. Das Mädchen auf der Laderampe ist zuerst verwundert über die wilde Landeintour, quer über die Wiese hin zum Haus der Familie, doch plötzlich hat Simone Angst, weil der Wagen gegen den wuchtigen, bildfüllenden Feigenbaum in unmittelbarer Nähe des Hauses kracht. Der Bitterkeit dieser akribischen Exposition entgegen stehen die Landschaft, die australische Weite, das Licht, das Freundliche in den Gesichtern der Leute, die Unschuld dieses Kindes. Schon deshalb, weil Simone dabei war, ist ihr nun eine ganz eigene Art der Trauer zuzugestehen.

Von Trauer nämlich erzählt Julie Bertuccelli in ihrem Film. Sie tut es aber anders als viele vor ihr. Sie erzählt natürlich von Schmerz und Hilflosigkeit und dem Neuordnen, diesem grauenhaften Aussortieren von Peters Sachen, von diesem für die Betroffenen völlig sinnentfreiten „Muß-ja-weiter-gehen“, auch fängt sie die ohnmächtigen und manchmal etwas feigen Blicke der Nachbarn und Bekannten ein, die zu Recht kaum wissen, was sie sagen sollen, die im Innersten dabei nur froh sind, daß es ihre eigenen Familien nicht getroffen hat. Bertuccelli ist eine sensible Erzählerin, eine kluge zudem, die nicht nur auf das Kind und dann die Mutter schaut, sondern auch die drei Geschwister Simones in den Fokus stellt. Jeder trauert anders. Der große Sohn zum Beispiel trinkt den Whisky des Vaters, bespricht den Anrufbeantworter neu, er nimmt die Dinge in die Hand, hingegen Dawn, die Mutter, sehr lange im Bett liegt, als könnte sie da alles ausweinen, wegschlafen, unter Kissen verstecken. Da stehen Momente großer Zärtlichkeit neben dieser dunkel wabernden Trauer, etwa wenn Simone ihrer Mama das Haar kämmt. Ihr vertraut sie sich an. Papa sei nicht wirklich tot, der Baum habe es ihr erzählt. Deswegen verbringt sie so viel Zeit im dicken Geäst dieses wahrlich märchenhaften Gewächses. Dann folgt Dawn ihrer Tochter auf den Baum ...

Hier gelingt Bertuccelli ein Kunstgriff, der den meisten aus dem Ruder gelaufen wäre: Sie verbindet die Realität, diese nüchterne, todtraurige Situation der Familie, mit einem geradezu mythischen Element, ohne ihren Film ans Sagenreich zu verscherbeln. Die Wurzeln dieses gigantischen Baums schließlich lassen die Erde reißen, und Verwüstungen am Haus nehmen ihren Lauf. Gut ist, daß Bertuccelli dann nicht nach einer Heilandsmutter-Figur strebt, ihre Dawn ist nach dem Unglück fertig und trotz ihrer vier Kinder und eines sich für sie interessierenden neuen Mannes allein. Das übersetzt diese zerbrechliche Charlotte Gainsbourg perfekt.

Zudem ist THE TREE exzellent fotografiert und musikalisch untermalt, und schließt mit einer nur auf den ersten Blick totalen Zerstörung. Hier ist sie Anfang von etwas ganz Neuem – nur so wird dieses große Leid zu verarbeiten sein.

Originaltitel: THE TREE

F/I/AUS 2010, 100 min
FSK 6
Verleih: Pandora

Genre: Drama, Poesie

Darsteller: Charlotte Gainsbourg, Morgana Davis, Marton Csokas

Regie: Julie Bertuccelli

Kinostart: 03.03.11

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.