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Thumbsucker

... und wupp den Daumen in den Mund

Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb der Frankfurter Kinderarzt Heinrich Hoffmann seine weltweit berühmten Geschichten, die unter dem Titel "Der Struwwelpeter" erschienen. Durch Hoffmann erlangte, neben solchen Figuren wie dem titelgebenden Schlamperjan, einem zündelnden Mädchen und einem Zappelphilipp, auch der daumenlutschende Konrad Berühmtheit. Generationen von Heranwachsenden dürften die Angst vor dem Schneider mit sich herumgetragen haben, von dem berichtet wurde, er begäbe sich im Hause unartiger Kinder mit einem konsequenten und wortlosen "schnipp schnapp" auf Daumenjagd.

Nun ist Keanu Reeves in vorliegendem Film als esoterischer Zahnarzt Dr. Lyman dem Schneider eher unvergleichlich. Der New-Age-Hobbypsychologe aber ist dem THUMBSUCKER Justin gleichsam auf der Daumenspur und verhext diese, der ständigen Kunstgriffe an einem Teenagerkiefer müde, eines Tages mit dem bitteren Geschmack von Echinacea. Für Justin, der sich schon mit der wachsenden Sorge seines Vaters herumschlägt, ist damit das Unheil vollkommen, denn wohin soll er nun mit Unsicherheit und Selbstzweifeln? Als ihm wegen seines Verhaltens schließlich Hyperaktivität bescheinigt und Ritalin empfohlen wird, greift der 17jährige mit Freuden zu den kleinen Pillen, versprechen sie doch wahre Wunder. Und tatsächlich, er erlangt bald grandiose Erfolge, seine Beliebtheit und seine Selbstsicherheit wachsen sprunghaft - bis hin zur Übersteigerung. Bald wissen weder seine Eltern, noch Lehrer und Freunde mit ihm umzugehen, und das Gerüst aus scheinbarer Normalität, mit dem sich Justin gerade anfreunden will, erweist sich überdies als recht wacklig - nichts ist wie es scheint ...

THUMBSUCKER ist eine großartig besetzte Ensemblekomödie für die große Leinwand, heiter und melancholisch, skurril und auch philosophisch. Regisseur Mike Mills hat hier neben dem Daumenlutscher Justin (in der Rolle ein ausgezeichneter Lou Taylor Pucci) ebenso verunsicherte Eltern im Blick oder vielmehr all jene, die denken sie wären "normal" und Normalität wäre ein erstrebenswerter Zustand des Seins. Auch stilistisch erweist sich THUMBSUCKER als Höhepunkt des amerikanischen Independent-Kinos. Allein ein etwas gedehntes Ende vermag die Freude ein wenig zu trüben. Die intendierte Botschaft ist ohnehin mehr als deutlich, "Bleib’ wie Du bist!" heißt es, oder im ungleich aktiveren Original: "Deal with it!"

Originaltitel: THUMBSUCKER

USA 2004, 94 min
Verleih: Stardust

Genre: Komödie, Erwachsenwerden, Schräg

Darsteller: Lou Taylor Pucci, Tilda Swinton, Vincent D’Onofrio, Keanu Reeves

Regie: Mike Mills

Kinostart: 19.10.06

[ Jane Wegewitz ] Für Jane ist das Kino ein Ort der Ideen, ein Haus der Filmkunst, die in „Licht-Schrift“ von solchen schreibt. Früh lehrten sie dies Arbeiten von Georges Méliès, Friedrich W. Murnau, Marcel Duchamp und Man Ray, Henri-Georges Clouzot, Jean-Luc Godard, Sidney Lumet, Andrei A. Tarkowski, Ingmar Bergman, Sergio Leone, Rainer W. Fassbinder, Margarethe v. Trotta, Aki Kaurismäki und Helke Misselwitz. Letzte nachhaltige Kinoerlebnisse verdankt Jane Gus Van Sant, Jim Jarmusch, Jeff Nichols, Ulrich Seidl, James Benning, Béla Tarr, Volker Koepp, Hubert Sauper, Nikolaus Geyrhalter, Thierry Michel, Christian Petzold und Kim Ki-duk.