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Toni Erdmann

Brillante Neuerfindung der Tragikomödie

„Bist Du eigentlich ein Mensch?“, fragt der Vater die Tochter einmal mitten im Zwiegespräch, um dann an seinen vorherigen Satz anzuknüpfen, als wäre gar nichts passiert. Eine typische Provokation des Alt-68ers gegenüber der Tochter, die sich im internationalen Busineßmilieu durchschlägt und damit eigentlich so gar nicht seinen Vorstellungen entspricht. Was ist da bloß schiefgelaufen? Allerdings wissen beide nur zu gut, wie abgedroschen diese moralische Formel inzwischen klingt, angesichts einer Welt, die immer unübersichtlicher wird. Die Tochter kontert mit Verspätung: Sie könne ihrem Vater genau aufzeigen, wo er sich weltweit mitschuldig mache, trotz seiner grünen Gesinnung. Wir alle sind miteinander verstrickt, ob wir wollen oder nicht.

Nachdem Maren Ade in ALLE ANDEREN die komplexe zeitgenössische Paar-Beziehung analysiert hat, erzählt sie nun von einer komplexen Vater-Tochter-Beziehung und dem Generationenkonflikt im Zeitalter der Globalisierung. Wie sie das macht, ist absolut kompromißlos und mutig. Ade riskiert alles – und gewinnt alles. Die über zweieinhalb Stunden vergehen im Flug. Die Geschichte nachzuerzählen ist fast nicht möglich, ohne den „Twist“ zu verraten, der im Film die gültigen Gesetze aus den Angeln hebt – oder zumindest die Realität ein Stück weiter Richtung Wahnsinn verschiebt.

Kleine Realitätsrisse begleiten den unangekündigten Besuch des einsamen Vaters Winfried bei seiner vielbeschäftigen Tochter Ines in Bukarest. Peter Simonischek spielt eine traurige Figur, einen Übriggebliebenen, der sich in die Clowns-Rolle rettet. Immer trägt er ein Scherzgebiß in der Hemdtasche, das er sich notfalls einsetzen kann, um sich an seiner eigenen Ironie aufzurichten. Doch auch der Tochter geht es nicht besser. Eine Kämpferin, die sich selbst dazu trainiert hat, in der Männerwelt da draußen zu bestehen und alle sexistischen Demütigungen an sich abperlen zu lassen. Sandra Hüller mischt eine Spur Depression in die Figur – und eine Sehnsucht nach einer Zeit der Unschuld.

Es ist schwer zu sagen, ob der Vater die Tochter zu retten versucht oder einen Hilferuf an sie richtet, indem er ihr in Bukarest kaum noch von der Seite weicht und sein Alter Ego namens Toni Erdmann auf die Busineßwelt losläßt. Eine durchaus ernste und bittere Welt, in der bei nächtlichen Parties über die Auslagerung und Schließung von ganzen Betrieben verhandelt wird. Der schwierige Balanceakt zwischen Realismus und Albernheit gelingt. Selten wurde in einem so traurigen Film so herzlich viel gelacht.

D 2016, 162 min
FSK 12
Verleih: NFP

Genre: Tragikomödie

Darsteller: Peter Simonischek, Sandra Hüller

Regie: Maren Ade

Kinostart: 14.07.16

[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...