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Vergiß mein nicht (2012)

Filmische Trauerarbeit und Liebeserklärung in einem

David Sieveking liebt seine Mutter Gretel. Und sie liebt ihn auch. Allerdings verwechselt sie ihn manchmal auch mit seinem Vater oder meint, ihn gar nicht zu kennen. Gretel hat Alzheimer, die Krankheit raubt ihr die Erinnerung – und damit einen wichtigen Teil ihrer Persönlichkeit. Ihr Sohn, der Filmemacher David Sieveking, nimmt die Diagnose zum Anlaß, alles andere beiseite zu legen und sich ganz darauf zu konzentrieren, seine Eltern auf dem schwierigen Weg, der vor ihnen liegt, zu begleiten – die Kamera immer im Anschlag.

Man mag sich fragen, ob es wirklich eine gute Idee ist, das Altern und Sterben der eigenen Mutter filmisch zu dokumentieren. Sieveking, in dessen Dokumentarfilmen bisher fast immer Mitglieder der eigenen Familie tragende „Rollen spielten“, ist dieses Wagnis eingegangen und hat – trotz Risiken und Nebenwirkungen – einen Film geschaffen, der durchaus neben Meisterwerken wie Dresens HALT AUF FREIER STRECKE oder Hanekes LIEBE bestehen kann. Ganz ohne Schauspieler und nur mit dem Mindestmaß an (Selbst-)Inszenierungen, ohne das wohl keine Familie auskommt.

Wie viele Alzheimer-Patienten hält sich Gretel nicht mehr mit Inszenierungen, Konventionen und Höflichkeitsfloskeln auf, sondern sagt direkt, was sie meint. Das bringt das familiäre Gefüge mehr als einmal ins Wanken, führt aber auch dazu, die klassischen Familienmythen mal in einem anderen Licht zu sehen. Gretel, die Zeit ihres Lebens immer wie eine starke, unabhängige Frau wirkte, für den Feminismus kämpfte und mit ihrem Mann in einer offenen Beziehung lebte, gewinnt letztlich erst durch ihre Krankheit die Freiheit, sich gesellschaftlicher Zuschreibungen und Verpflichtungen wirklich zu entledigen. Erst als Vergangenheit und Zukunft keine Rolle mehr spielen, beginnt sie, im Jetzt zu leben – mit allen teils schreiend komischen, aber auch herzerweichend traurigen Konsequenzen.

David Sieveking ist ein schmerzlich berührender und trotzdem an vielen Stellen sehr heiterer Film gelungen, der die Zuschauer mitnimmt tief hinein ins sehr private Universum einer Familie, die etwas erlebt, das weitaus alltäglicher ist, als man meint. Am Ende ist Alzheimer nur eins von vielen Themen. Eigentlich geht es ums Leben und Sterben und um die Liebe; um Besitzansprüche und Gefühle, um Erinnerungen, Prägungen und um die Frage, ob und warum sich das Aufstehen eigentlich lohnt.

D 2012, 88 min
FSK 0
Verleih: Farbfilm

Genre: Dokumentation, Schicksal

Regie: David Sieveking

Kinostart: 07.02.13

[ Luc-Carolin Ziemann ] Carolin hat ein großes Faible für Dokumentarfilme, liebt aber auch gut gespielte, untergründige Independents und ins Surreale tendierende Geschichten, Kurzfilme und intensive Kammerspiele. Schwer haben es historische Kostümschinken, Actionfilme, Thriller und Liebeskomödien ... aber einen Versuch ist ihr (fast) jeder Film wert.