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Violently Happy

Ein Theater der Intimität

In warmes Licht getaucht breitet sich die Spielwiese aus. 500 Quadratmeter im Berliner Wedding. Unter den wachsamen Augen von Felix Ruckert betropfen sich Paare mit Wachs, fesseln sich, peitschen sich aus, führen sich Nadeln in den Körper ein. Die Kamera von Paola Calvo tastet den Schmerz ab, hält die Sinnlichkeit fest, eine flirrende Intimität.

Die Szenen schwanken zwischen in Sonne gebadeten Hippie-Eso-Happenings und explizitem Sex. Irgendwer bringt den Begriff „Wellness-BDSM“ ins Spiel. Und es ist wirklich nicht ganz in Worte faßbar, was genau hier in der „Schwelle 7“, dem Experimentierfeld von Ruckert, stattfindet, entzieht es sich doch den Klischees der Dark Rooms genauso wie dem Blümchensadomasochismus von „Shades Of Grey“.

Ruckert hatte schon früh als Choreograph und Tänzer begonnen, S/M, rituelle Handlungen und experimentelle Körperarbeit in seine Inszenierungen zu integrieren. Erst heute scheint seine Zeit gekommen, werden seine Performances neu gelesen. Das Spannende an Ruckerts Arbeit ist sicherlich die zur Schau gestellte Ambivalenz zwischen intellektueller Herangehensweise und Passion. Das Konzept im Kopf und der (einkalkulierte) Kontrollverlust, den der Schmerz erzeugt: „Juxtaposition als formelle Operation von Synchronizität.“ Calvo und ihre Kamera bieten den Spielwütigen eine extraordinäre Bühne, vielleicht auch den Extrakick, fangen eine lustvolle Dekadenz ein. Auf Nebenspielplätzen sieht man Ruckert bei der Zahnreinigung, Blumentöpfe verrücken, backen und mit seiner Freundin – laut Selbstauskunft die „unbegabte Normalitätsbeauftragte“ – plaudern und kuscheln. In Parallelmontage dann Ruckert mit Blutegeln und Schröpfinstrumenten im Einsatz.

Mara Morgen, Kulturarbeiterin und Expertin in Sachen Erniedrigungsspiele, läßt sich in einem atemberaubenden Transformationsritual von Ruckerts tanzenden Peitschen führen. Die Zurschaustellung intimster Momente hat auch eine politische Botschaft. Morgen lehnt Anspruchshaltung und ideologische Vereinnahmung in jeglicher Form ab. Feminismus beginnt für sie auch dort, wo man selbstbewußt Unterwerfung praktiziert.

Daß sexuelle Bedürfnisse jeglicher Form selbstbewußt gezeigt werden, man Kurse in Spanking genauso buchen kann wie eine Yogastunde, hat durchaus revolutionäres Potential: Denn eine Gesellschaft, die alle schwelenden „dunklen“ Bedürfnisse zuläßt, einlädt, sie kontrolliert auszuleben, könnte, ähnlich wie mit täglicher Meditation schon prognostiziert, den Weltfrieden erreichen.

D 2016, 90 min
FSK 18
Verleih: Zorro

Genre: Dokumentation, Erotik

Regie: Paola Calvo

Kinostart: 26.01.17

[ Susanne Kim ] Susanne mag Filme, in denen nicht viel passiert, man aber trotzdem durch Beobachten alles erfahren kann. Zum Beispiel GREY GARDENS von den Maysles-Brüdern: Mutter Edith und Tochter Edie leben in einem zugewucherten Haus auf Long Island, dazu unzählige Katzen und ein jugendlicher Hausfreund. Edies exzentrische Performances werden Susanne als Bild immer im Kopf bleiben ...